Souveniers einer kleinen Weltstadt – Harry Graf Kessler und andere Junggesellen

Ich stehe mit einem Pflaumenaugust in der Hand, einige Bienen anlockend, die trotz bedeckten Himmels und leidlicher Septemberwärme des süßen Nektars nachstellende Begleiter spielen, auf dem Weimarer Theaterplatz an einem Zeitungsanschlag. In der mittigen Kolumne – ich schmunzle – wird dem überheblich-rachlüsternen Franzmann oder auch dem gekränkten Boche (?) verdeutlicht, daß der Reichskanzler keineswegs mehr für die Politik des AA verantwortlich zu machen sei, da seine Kompetenzen nun eingeschränkter verstanden werden müßten als früher. Hehe, der hat gesessen!

Nein, ich bin leider nicht in ein glückliches Wurmloch geraten. Vor dem neuen Haus der Weimarer Republik – Rietschels Goethe und Schiller schauen drauf – ehemals Bauhausmuseum, welches nun in einem Klotz gegenüber dem Gauforum eine würdigere Heimat seiner Torheiten gefunden hat… vor jener alten Wagenremise der Fürstin also scheint nun regelmäßig die Vossische Zeitung angeschlagen zu werden. Freilich gibt’s das Blatt nicht mehr, aber es handelt sich ja auch um die Ausgabe von 1920, also vor 100 Jahren, eben zu Zeiten der Weimarer Republik. Eine nette Idee.

Ganz regelmäßig wird sie unterdessen wohl doch nicht aktualisiert, denn es hing das Abend-Exemplar vom 3. September aus. Wir haben aber den Fünften! Und ich war kurz nach 12 Uhr zugegen. Da hätte mindestens das Morgenblatt vom 4. hängen müssen, wenn man nach Wochentagen geht (das war 1920 der Samstag). Auch waren nur zwei Seiten angeschlagen, die erste so verpixelt, daß man schon ein besonderes Talent zur Fraktur besitzen mußte, um lesen zu können. Nun, und von der illustrierten Beilage wollen wir gar nicht reden! Also offenbar nur alles halbe Sachen, aber immerhin. Wenn Sie dennoch lesen wollen, was vor 100 Jahren in der Vossischen stand und nicht jeden Morgen und Abend enttäuscht nach Weimar fahren wollen, dann gibt’s ja immer noch das Archiv der Staatsbibliothek Berlin.

Ich stand vor dem Schaukasten recht gebückt, da hier offenbar wieder die 90%-Frau zum Maß aller Dinge erhoben wurde – etwa so gekrümmt, wie einst Harry Graf Kessler, als er 1930, am 15. Juli, bei einem Empfang Hugo Simons, des Berliner Bankiers, im Gespräch mit Maillol photographiert wurde. Kessler war offenbar groß…. und herablassend, also herablassend im alten, besseren Sinne – nein, er spricht ja mit Maillol – zumindest der Körpersprache nach, wie das Photo zeigt.

Wie ich darauf komme? In der Bibliothek ließ ich mir das Buch John Dieter Brinks‘ über Harry Graf Kessler kommen, weil mir der Untertitel „Leben in Bildern“ unbekannte Photograhien verhieß, und dies war das eben einzige Bild, das ich noch nicht kannte: Kessler von halb rückwärtig gesehen steht mit Maillol und einer Dame (Marie-Luise Sarre?) auf einer Terrasse bei besagtem Empfang (mit etwas kurzen Hosen, wenn ich das bemerken darf, was ich freilich nicht darf – es ist der Graf Kessler, zum Donnerwetter). Im Hintergrund links scheint Renée Sintenis breitbeinig und die Arme in die Hüften gestützt (sehr an Annemarie Schwarzenbach erinnernd) mit einem Herren zu reden, der ebenfalls einen kräftigen Ausfallschritt auf die Brunnenmauer tut – die Brunnenmauer jenes Brunnens, für dessen Mitte der Bankier Simon bei Kolbe die Kauernde in Auftrag gab (auf dem Photo nicht sichtbar). Rechts steht im Hintergrund Albert Einstein im Gespräch mit einem Herren, der wie Meier-Graefe aussieht. Aber die Photographie hat zu viel Tiefenunschärfe als daß drgl. mit Bestimmtheit zu sagen wäre. Sie finden die besagte Aufnahme auf der zweiten Seite dieses PDF oben rechts.

Es gibt eine andere Photographie von jener Terrasse der Villa in der Drakestraße am selben Tag, in der Liebermann, Maillol und Einstein mit der Sintenis zu sehen sind. Dort trägt sie aber noch ein Jacket über dem Kleid und einen Hut. Ob sie’s also auf dem ersten Photo ist, bleibt fraglich. Aber schon die Haltung weist stark darauf hin, die dunkle Gesichtsfarbe ebenfalls. Anwesend war sie jedenfalls, wie auch Kessler in seinem Tagebucheintrag festhält.

Richtig, ich wollte ja von Kessler sprechen. Das Buch aus der Feder von Brinks ist zwar weniger bebildert als ich hoffte, aber angenehm zu lesen. Eine solche Verteilung meines Urteils ist für neuere Bücher ausgenommen selten. Der Mann hat Kessler – zumindest psychologisch – verstanden, soviel ist sicher. Und schreiben kann er auch – wenigstens was sein Deutsch betrifft. Die französischen Einsprengsel kommen mir allerdings gelegentlich gesucht vor. Dennoch ein guter sprachlicher Gesamteindruck; sehr selten in unseren Tagen.

Nur an einer Stelle hapert es wieder einmal, nämlich auf dem Weg vom Nationalisten zum Pazifisten. Die Tagebücher der zweiten Kriegshälfte und den Übergang ins Jahr 1919 scheint niemand recht gelesen zu haben, auch Brinks nicht. Denn wie sonst könnte ein Mann, der sonst so feinfühlig und scharf beobachtend in Kesslers Wesen einzudringen vermag, übersehen, daß Kessler noch in den Untergangswirren des November 1918 um das Elsaß trauert und sich mit Schickele im Stil altgermanischer Mythen nach dem Kampf – gegenseitig schwerverwundet – in den Armen liegt, um einander zu versichern, die letzten verbliebenen Patrioten zu sein (freilich nur metaphorisch verwundet, denn Kessler war ja im diplomatischen Dienst, nachdem er 14/15 an Ost- und Westfront mit einigen Schutzengeln gedient hatte). Wenn ich mich recht entsinne, wollte Brinks schon im Krieg Kesslers Wandlung zum Pazifisten ausgemacht haben. Nun, schade. Hatte ich oben gesagt, er hätte ihn verstanden? So weit eben, wie das allgemein beliebte Bild nicht angekratzt wird, das man sich von ihm gemacht hat, um in keine unangenehmen Konversationen zu geraten. Sie verstehen.

Nun, und Pazifist? Wer war denn 1918/19 kein Pazifist? Selbst das Oberkommando des Heeres wollte keinen Krieg mehr, ersuchte um Waffenstillstand. Allein die Zuschreibung, die freilich überall wie ein großer Genie- oder wenigstens Revolutionsstreich angehimmelt wird, ist absurd. Was hätte sich Kessler für solches Gehabe geschämt. Aber Toten kann man alles nachsagen, wenn es keine echten Vertreter ihres Erbes mehr gibt. Jaja, das hier liest niemand, daher bin ich’s leider nicht. Aber das Gewissen gibt’s mir auf, meine Herren.

Und dann darf man, wenn die Zeit mal nicht so drängt, gern noch einmal den Punkt ausmachen, an dem Kessler so plötzlich und unvermittelt zu jenem Pazifisten wird, der als so wichtige, nimmermüde Entschuldigung dient, daß man sich allen Ernstes so liebreich mit einem Konservativen auseinandersetzen und tiefgründig befassen darf – in einer Zeit, da dies an Ideologiebeleidigung (mangels Majestätsbeleidigung) grenzt. Man wird mit Verwunderung feststellen, daß er eben nicht zum Pazifisten wurde, weil er nun, was gemeinhin als Pazifismus gilt, wie ein Träumer den Krieg für ausgerottet ansehen wollte, sondern in der damals gegenwärtigen Situation Deutschlands unter dem Versailler Vertrag die einzige politische Argumentationslinie darin sah, von den Siegermächten nun jenen Verzicht auf alle Machtpolitik zu fordern, die nur der fordern kann, der weiß, daß er selbst – und zwar aus Schwäche – auf absehbare Zeit diese Mittel ohnehin nicht anzuwenden vermag und daher bei solchem Sozialismus der Vaterländer nur gewinnen kann. Ein Kalkül, meine Herren, ein Zug der politischen Klugheit war das – den Kessler auch deutlich ausspricht. Nicht mehr und nicht weniger. Aber wem erzähle ich das? Sind altgediente Diplomaten anwesend?

Daß sich Brinks darüber hinaus über die abfälligen Äußerungen Kesslers bzgl. des Kunstgeschmacks am Kaiserhof freut und unkommentiert den Kontrast zum hungernden Munch herstellt, zeigt erneut, daß er das Tagebuch entweder schlecht kennt oder eben, wie es bei Kessler allgemeiner Brauch, eine gar nicht vorhandene Modernität seiner Anschauungen zur Schau stellt, die Meriten in unserer Verfallsmoderne ernten soll. Bemerken Sie ein Muster?

Denn ja, Kessler hat Munch gewissermaßen vorm Hungertod bewahrt. Doch darf, wer ehrlich bleiben will, nicht unerwähnt lassen, daß sich Kessler in Bezug auf Munch selbst Vorwürfe macht, daß er Künstler unterstütze, deren Werke er für schwach hielt. Wo hört Redlichkeit auf, wo fängt Unkenntnis an?

Wollte ich etwa so viel von Kessler reden? Eigentlich nein. Aber soll ich mich denn über den lächerlichen Strauß-Beitrag in der Zeit auslassen? Jaja, in der Zeit, kein Scherz. Wenn dort Botho Strauß abgedruckt wird, können Sie sich in etwa vorstellen, welche ollen Kamellen dem greisen Geist da entfleucht sind. Denn der gilt ja als konservativ – also unter den 120%igen. Der Einäugige… usw.

Von Junggesellen wollte ich erzählen! Eine einzige Ausgabe jener berüchtigten Zeitschrift der 20er-Jahre befindet sich im Archiv der Anna-Amalia-Bibliothek. Na, wer weiß, vielleicht ist der Rest in Rauch aufgegangen. Übrigens heißt es auch bei der ohnehin freilich lückenhaft überlieferten Privatbibliothek Harry Graf Kesslers, die in Weimar lagert – oder sollte ich sagen lagerte –, oft genug: beim Brand verschollen. Idioten verwalten das Erbe unserer Kultur, d.h. was davon übrig ist. Brandmelder usw. Sie verstehen…

Jedenfalls gibt es noch ein Exemplar jener angenehm illustrierten Herrenzeitschrift, die dann wohl doch nie in der Bibiothek Kesslers zu finden war: Der Junggeselle. Aber vielleicht hat er ja Kaloderma Rasierseife verwendet? Mehr dazu ein andermal.

*

9 Gedanken zu “Souveniers einer kleinen Weltstadt – Harry Graf Kessler und andere Junggesellen

  1. Auf eben jener zweiten Seite des angegebenen Kessler-pdf findet sich auch eine Fotografie von Rainer Maria Rilke, die zumindest ich noch nicht kannte (im Gegensatz zu einer bekannteren Kessler-Fotografie von Rilke, in der er so verloren in einer riesigen Halle sitzt).

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  2. Ich kenne als Kesslerianer die beiden Aufnahmen zwar, aber hielt sie nie für sonderlich interessant, da mir Rilke nie interessant erschien. Das andere Foto, das Sie vermutlich meinen, ist in der gleichen Situation entstanden. Halle ist da etwas übertrieben. Er hat denselben Morgenmantel an, sitzt auf demselben Stuhl… aber es ist witzig, sich Kessler vorzustellen, wie er im Zimmer hin und her läuft, um Rilke aus verschiedenen Perspektiven und in verschiedenen Posen zu fotografieren.

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  3. Aha, dieselbe Situation – ja, könnte sein.
    Naja, wenn dies das Bildhauer-Atelier Rodin’s gewesen ist, so mußte es ja schon eine gewisse Geräumigkeit aufgewiesen haben und war vermutlich gerade leergeräumt.
    (Man kennt ja die Photographien von vollgestellten Werkstätten andere Bildhauer.)
    Rilke hat – in der siebten seiner Duineser Elegien – wie mir scheint zur Bauhaus-Architektur Stellung genommen (wenn ich es recht verstanden habe). Und wenn ich es recht verstanden habe, dann auch in Ihrem Sinne.

    Auch gibt es da diese schönen Worte über die Kathedrale von Chartres:

    … Jede dumpfe Umkehr der Welt hat solche Enterbte,
    denen das Frühere nicht und noch nicht das Nächste gehört.
    Denn auch das Nächste ist weit für die Menschen. Uns soll
    dies nicht verwirren; es stärke in uns die Bewahrung
    der noch erkannten Gestalt. – Dies stand einmal unter Menschen,
    mitten im Schicksal stands, im vernichtenden, mitten
    im Nichtwissen-Wohin stand es, wie seiend, und bog
    Sterne zu sich aus gesicherten Himmeln. …

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  4. Sie haben Recht, das könnte tatsächlich eine Ecke des Ateliers von Rodin sein. Merkwürdig, den Schreibtisch dort hinzustellen.

    Man kommt bei Rilke immer vor allem mit der Lyrik in Kontakt, und das hat mich nie beeindruckt. Aber vielleicht sollte ich bei Gelegenheit mal eine Erzählung lesen.

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  5. Rilke war Briefschreiber. Nicht zuletzt.
    Auch hat mich sein Buch über die Maler von Worpswede beeindruckt. Aber das sind halt so „Geschmackssachen“.
    Das Schöne an Rilke ist: Er ist kein „konservativer Revolutionär“, der eigentlich nur Untergang sieht und heldisch in den Untergang gehen will.
    Er sieht Zukunft.
    Und er hat alles Recht dazu.

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  8. Ich weiß nicht, ob Sie über weitere Kommentare informiert werden, Herr Bading: Ich lese gerade im Kesslerschen Tagebuch, wie Kessler diese Fotos von Rilke gemacht hat. Das ist das aufgehobene Kloster Sacre Coeur, in dem Rilke zu diesem Zeitpunkt wohnte. Daher die enormen Fenster und die Raumhöhe.

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  9. Ja, aber Palais Biron stimmt ebenfalls, wie ich gerade sehe. Es gibt nämlich sehr viele Namen für immer das gleiche Gebäude. Es ist das heutige „Musée Rodin“
    https://de.wikipedia.org/wiki/Mus%C3%A9e_Rodin
    Ab 1790 hieß es „Hotel Biron“ nach seinem Vorbesitzer, einem Herzog Biron.
    Ab 1820 war es als „Konvent von Sacré Cœur“ bekannt, eine Schule für höhere Töchter.
    Rilke wohnte hier zwischen 1905 und 1906, ebenso andere Künstler, auch seine Frau Clara Westhoff.
    Rodin selbst scheint hier erst 1909 Zimmer gemietet zu haben, ab 1916 wurde es das ganze Gebäude dann zum „Musée Rodin“ umgewidmet.
    Bildersuche zu „Musée Rodin“ zeigt gleich, daß man von innen überall diese hohen Fenster sieht.

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