Wangenheims Literaturliste zur Allgemeinbildung

Wie ich mich habe überzeugen lassen, war meine Absage an eine Empfehlung von allgemeiner und Sachliteratur doch etwas voreilig, meine Annahme, dergleichen sei allgemein bekannt und der Erörterung nicht wert, durchaus nachlässig. So will ich also der Aufforderung nachkommen, auch eine Literaturliste der Allgemeinbildung neben die der bereits veröffentlichten zur Gemütsbildung zu stellen.

Eines haben beide Listen gemein: Literatur des 20. Jahrhunderts ist ausgenommen rar. Das ist kein Spleen, sondern das Ergebnis mancher glücklicher Fügung sowie meiner merkwürdigen Abneigung, überhaupt zu lesen. Die Hürde, welche jedes Buch zu nehmen hat, dem ich tatsächlich auf die zweite Seite folge, ist so hoch, daß nur die Besten der Besten die Sprungkraft geben, mich drüberzusetzen. Sodann aber folge ich meist bis zur Schlußseite, auch wenn freilich bald jedes Buch seine Längen hat. Das gilt es zu bedenken, wenn Sie die Liste als Anregung verstehen wollen.

Dabei darf nicht übersehen werden, was letztlich für jedes philosophische, jedes Sachbuch, jede Historie gilt: Ein Buch ist nicht abzulehnen, weil es Gedanken proklamiert, die man für absurd hält. Ist es zugleich ein sprachlich fabelhaftes Meisterwerk, enthält es auch nur hier und da tief Geschautes und manche Anregung, ja selbst wenn es bloß so allgemein bekannter und für die Geistesgeschichte bedeutsamer Natur ist, daß man es einfach nicht übersehen darf, so kann es, ja so muß es einem anderen Buche, dem man jedem Satz ein „Wohl wahr!“, „Recht hat er!“ entgegnen möchte, zweifellos überlegen sein.

Aber das macht die Schönheit großer Denker aus, daß selbst Gedanken und Schlüsse, die man als selbstverständlich, ja gar falsch erachtet, allein durch die Kühnheit des Denkens und ihrer sprachlichen Fulminanz, dem denkerischen Witz wegen groß werden, ja daß ihnen am Ende allein als Stichwortgeber für die kritische Widerrede (der häufigste Sinn eines jeden Buches in der Weltgeschichte) bereits der höchste Rang und damit höchste Bedeutung bei der Bildung der eigenen Weltanschauung zukommt.

Außerdem mag noch geklärt werden, weshalb auch hier belletristische Werke vorkommen, nämlich Werke der Antike: Die Ilias, die Odyssee sowie die Aeneis Vergils oder die Metamorphosen Ovids habe ich ausgelassen, da ich sie selbst nur in Nachdichtungen kenne. Anders verhält es sich bei den Komödien und Tragödien sowie mit den philosophischen Schriften. Daß selbst die Dramen aber hier und nicht in meiner Literaturliste zur Gemütsbildung vorkommen, hat den nachvollziebaren Grund, daß wir in der antiken Literatur im Grunde nur von historischen Fremdheiten erfahren, weniger über uns als Menschen – obgleich die Griechen auch bloß Menschen waren… so sagt man wenigstens. Ihr Denken und Fühlen bleibt für uns dennoch abstrakter Natur. Wir mögen uns dafür interessieren, werden aber nicht bis ins Letzte gerührt sein können. So gehört auch ihre Literatur ins Fach der Allgemein- nicht der Gemütsbildung, wenngleich auch diese Traumbilder zuweilen ewig im Kopfe schwirren bleiben.

Daß ich schließlich als Kondensation all der gegebenen Literatur und einer kaum rekonstruierbaren Menge anderer Einflüsse mein eigenes Buch „Kultur und Ingenium“ empfehle, ist selbstredend. Nicht nur, weil ich in der Liste etwa auf kunst-, literatur- oder polit-historische Abhandlungen im fachlichen Sinne verzichtet habe, auch keine Bücher zur Mathematik und Physik vorkommen, keine gesonderte Literatur zur Rechts- oder Wirtschaftsgeschichte, wofür es selten einzig empfehlungswürdige Beispiele gibt, ist eine solche Überschauung naheliegend. Es ist darüber hinaus als Geschichtsphilosophie auch im höheren Sinne geeignet, eine Gesamtdarstellung zu geben, die freilich weit über die genannte Literatur in den Listen hinausgeht und in Verbindung mit der sie umgebenden Tat- und Erkenntnisgeschichte eine erklärende, und damit auch didaktische Struktur der Weltgeschichte erschließt.

Auch zu dieser Liste können Ergänzungen folgen.

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Aischylos: Sieben gegen Theben

Aristophanes: Die Ritter, Die Acharner, Die Wolken, Die Weibervollversammlung

Aristoteles: Verfassung der Athener, Nikomachische Ethik

Bismarck, Otto Fürst von: Gedanken und Erinnerungen Bd. I-III

Burckhardt, Jacob: Weltgeschichtliche Betrachtungen

Carlyle, Thomas: Geschichte Friedrichs des Zweiten (zur Auswahl)

Cicero, Marcus Tullius: De legibus (Vom Recht)

Descartes, René: Meditationen über die erste Philosophie

Diels/Kranz: Die Fragmente der Vorsokratiker

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe

Epikur: Briefe

Euripides: Medea

Fichte, Johann Gottlieb: Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, Bestimmung des Gelehrten, Über Glückseligkeit

von Goethe, Johann Wolfgang: Goethes Leben von Tag zu Tag (zur Auswahl), Goethes Gespräche (Biedermann)

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enyzklopädie der Wissenschaften (darin: Wissenschaft der Logik, Lehre vom Sein), Grundlinien der Philosophie des Rechts, Wer denkt abstrakt?

Herder, Johann Gottfried: Abhandlung über den Ursprung der Sprache, Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft

v. Humboldt, Wilhelm: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (zur Auswahl); Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers

Hume, David: A Treatise of Human Nature (zur Auswahl)

Illig/Löhner: Der Bau der Cheops-Pyramide

Kaerst, Julius: Geschichte des hellenistischen Zeitalters (Bd. I und Bd II 1)

Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft (Einl., 1. & 2. Teil), Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes

v. Kessler, Graf Harry: Tagebuch (1880-1937) (9 Bde., zur Auswahl)

von Kleist, Heinrich: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden

Kirkegaard, Søren: Entweder – Oder (zur Auswahl)

Kluge, Friedrich: Deutsche Sprachgeschichte

Locke, John: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand

Lukian: Vom Tanz, Wie man Geschichte schreiben muß

Mann, Thomas: Betrachtungen eines Unpolitischen, Von deutscher Republik, Deutschland und die Deutschen, Gedanken im Kriege

Marx, Karl: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (siehe Hegel)

Meyer, Eduard: Geschichte des Altertums

Mommsen, Theodor: Römische Geschichte (zur Auswahl)

Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra; Jenseits von Gut und Böse; Ecce Homo; Menschliches, Allzumenschliches

Platon: Parmenides, Phaidros, Sophistes, Protagoras, Gorgias, Kritias, Theaitetos

Plautus: Amphitryon, Captivi

von Ranke, Leopold: Französische Geschichte, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation

Rousseau, Jean-Jaques: Spaziergänge eines einsamen Träumers

Ruedorffer, J.J. (Kurt Riezler): Grundzüge der Weltpolitik der Gegenwart (1914)

Schelle, Karl Gottlob: Die Spatziergänge oder die Kunst spatzieren zu gehen

von Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, Über naive und sentimentalische Dichtung, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte

Schlegel, Friedrich: Ästhetische und politische Schriften

Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung (1. Buch), Parerga und Paralipomena, Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde

Sophokles: Ödipus, Elektra

Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes (2 Bde.), Der Mensch und die Technik, Neubau des Deutschen Reiches, Pessimismus?, Preußentum und Sozialismus, Politische Pflichten der deutschen Jugend, Jahre der Entscheidung

Tacitus: Germania

Terenz: Adelphoe

von Treitschke, Heinrich: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert

Vaihinger, Hans: Philosophie des Als Ob (zur Auswahl)

Vollgraff, Karl F.: Erster Versuch der Begründung sowohl der allgemeinen Ethnologie aus der Anthropologie wie auch der Staats- und Rechtsphilosophie durch die Ethnologie oder Nationalität der Völker (1851)

Weber, Max: Wissenschaft als Beruf, Objektivitätsaufsatz

Wolff, Theodor: Die Wilhelminische Epoche

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8 Gedanken zu “Wangenheims Literaturliste zur Allgemeinbildung

  1. Pingback: Wangenheims Literaturliste zur Gemütsbildung – Die Reisen des wunderlichen Herrn Wangenheim

  2. Danke, aber dabei lese ich gar nicht gern und auch nicht viel. Ich glaube, es liegt eher daran, was man liest als wie viel. Insofern hoffe ich, daß eine solche Liste auch für andere hilfreich sein kann.

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  3. Johann Heinrich

    Guten Tag,

    schöne Liste(n), schöne Seite, jedoch welche Abneigung gegen das Lesen haben Sie genau; ich frage insofern, da lesen lediglich das Mittel ist, mithilfe Information aufgenommen wird. Ist es nicht eher so, dass es der Inhalt ist, welchen wir bewerten und den wir gerne oder weniger gerne lesen, hören oder sehen? Wer nicht gerne zu Fuß läuft, fährt Fahrrad, will sagen, kommt trotzdem vorwärts. Wenn ich Literatur liebe – was ich tue – so haben wir heute die Möglichkeit Audioaufnahmen vieler klassischer Romane, ja sogar Sachbücher, auch manches philosophische Werk uns auf eben diesem Wege zu Gemüte zu führen. Zudem verschafft uns lesen in Tram oder Zug, im Bett oder im Grünen durch die Änderung des „Settings“ eine nicht immer identische Leseerfahrung; wer nicht gerne im Zug liest, es nur dort praktiziert, weis nichts von dem Vergnügen, sich Lyrik auf einer Wanderung vorzulesen. Er bewertet damit nur „seine“ bisherige Leseerfahrung und extrapoliert diese auf „alle“ anderen Leseerfahrungen. Die unkommentierte Aussage keine Bücher zu mögen respektive nicht gerne zu lesen ist für sich genommen eher Ausdruck einer Abwertung klassischen Kulturguts einer Oberschicht aus einer bildungsfernen Perspektive.
    Sehen wir es einmal so…. wenige würde das Menu eines Sternekoches nur deshalb zurückweisen, weil ihnen der Prozess der Essensaufnahme keine Freude bereitet. Verstehen Sie das nicht als Kritik an Ihrer Haltung, die ich Ihnen natürlich zubillige, vielmehr als Aufforderung zur Hinterfragung eigener Dogmen.

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  4. Gerade weil ich so ungern lese, suche ich jede Abwechslung des Lesens im Garten, im Wald usw. und nutze alle nur erdenklichen Schlupflöcher wie das Hörbuch aus, um die Langweiligkeit des Vorgangs abzukürzen. Das hat auch mit der Qualität der Lektüre nichts zu tun. Selbst das Lesen großartiger Literatur wird mir in Kürze langweilig und unangenehm, obwohl es hochinteressant ist und von stilistischen Genüssen nur so strotzt. Das hat sicher gelegentlich mit Ungeduld zu tun. Ich lasse häufig Hörbücher und Vorträge mit 1,5-facher Geschwindigkeit laufen. Aber man kann konzentriert nicht beliebig schnell lesen, ich wenigstens nicht. Und da liegt der Hund begraben.
    Immerhin habe ich auch durchaus historische Leidensgenossen, wie Chamberlain, der ebenfalls so wenig wie möglich las und sich trotz vorhersehbarer Abwertungen der „Oberschicht“ dafür nicht schämte. Aber so ist das mit den Männern „bildungsferner Perspektive“, die ahnungslos in ihren Dogmen hausen.

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  5. pippen1234

    Warum eigentlich nicht Machiavellis „Der Fürst“? Kennen Sie das Werk und war es eine bewußte Entscheidung, es nicht in ihre Liste aufzunehmen oder handelt es sich um bloßen Zufall?

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  6. Ich halte diese Schrift für ziemlich schwach. Sie beinhaltet meiner Auffassung nach ausschließlich sehr offensichtliche Gedanken, die kaum Wert sind, niedergeschrieben zu werden. Auch die historischen Beispiele sind zumeist sporadisch und wenig überzeugend. Die Lektüre eines guten Geschichtsbuches ersetzt das und vermittelt zudem noch profunde historische Kenntnisse.

    Mir scheint das Werk in den letzten Jahren nur deshalb eine so große Bekanntheit und Bedeutung erlangt erlangt zu haben, weil man nach Jahrzehnten der Schönfärberei in der Politik plötzlich sah, daß man die Dinge auch beim Namen nennen kann – und davon wunder Gott wie überrascht war. Aber inhaltlich interessant und überraschend ist da genauso wenig, wie in Clausewitzens „Vom Kriege“. Mir scheint der Wirbel um das Buch also völlig ungerechtfertigt.

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