Soirée russe . Mendelssohn, das Streichquarett und Berlioz als Ideengeber Wagners

Mein lieber Herr Gesangverein… ähh Wangenheim! Was bildet er sich eigentlich ein? Erst muß man sich anhören, ja gar selbständig lesen, daß es hier nichts aber auch gar nicht zu sehen gebe und man bitte nie wieder kommen solle, und gleich im folgenden Beitrag packt der Kerl mal wieder die heißesten Eisen an! Da kommt man sich doch zwangsläufig veralbert vor, oder etwa nicht? — Ja, doch, schon. Aber man muß das Eisen schmieden, solange es heiß ist. Zudem kann ich Sie nur dringlichst versichern, daß auch mit der feinfühligsten Geschichtsphilosophie heute noch unmöglich ist, die Videos vorauszubestimmen, die man am nächsten Tag bei Youtube schaut. Dabei bin ich ständig am Kalkulieren. Glauben Sie mir! Ich sage Ihnen bescheid, wenn ich mich selbst vorhersagen kann. Schreckliche Vorstellung. Keine Überraschungen mehr.

Aber, meine verehrten Leser, ich gedenke nun alles wiedergutzumachen. Und zwar mit Pauken und Trompeten. Gleich wenigstens. Zuvor kommen wir zu einem der wirklich wichtigen Dinge im Leben: dem Apfel. Genauer dem Kornäppel.

Der Kornapfel ist ein vielsagendes Beispiel für ein verlorenes Kulturgut. Denn Kornäpfel gibt es nicht mehr. Wenigstens für den Städter nicht und auch die meisten draußen auf dem Land. Dabei kennt bald jeder den einzigartigen Geschmack dieses Apfels aus Kindheitstagen, wie ich vermuten möchte. So etwa, wie jeder den Grafensteiner kennt – wiederum mindestens dem Geschmack nach.

Nicht, daß es gar keine guten Äpfel mehr zu kaufen gäbe. Ein gut gereifter Cox Orange ist zuweilen durchaus zu haben, oder auch seine Abart, der Holsteiner Cox. Doch jenes „gut gereift“ ist der entscheidende Punkt dafür, warum Sie niemals einen Kornapfel im Laden sehen werden. Denn während der Cox ein Lagerapfel ist und im Oktober oder November geerntet bis Februar oder gar März gelagert werden kann, sieht es beim Kornapfel düster aus: Nach einer Woche spätestens ist er hin, vollkommen mehlig und ungenießbar. Und das gilt auch vom Erntezeitpunkt. Es gibt wohl kaum einen Apfel, der so punktgenau zu ernten ist, wie dieser. Daß er zudem auf Druckstellen arg empfindlich reagiert, fällt dabei schon gar nicht mehr ins Gewicht. Was für eine Mimose! Auf der anderen Seite heißt er aber auch nicht umsonst Kornapfel, denn er reift bereits mit dem Korn, also Ende Juli oder wie dieses Jahr Anfang August.

Nun ist Ihnen klar, weshalb es einen solch komplizierten Patienten in der Massenabfertigung von möglichst haltbaren und widerstandsfähigen Früchten nicht gibt. Aber vielleicht haben Sie schon einmal auf dem Wochenmarkt „Klarapfel“, „Kornapfel“ oder ähnliches gelesen. Die sahen dann vermutlich so aus, wie hier auf dem oberen Bild. Diese Äpfel sind jedoch bei weitem nicht reif. Und so schmecken sie dann auch: sauer und sonst nichts. Allerdings ist er in diesem Zustand haltbar und alles andere als druckempfindlich. Ob die Äpfel vernünftig nachreifen, kann ich nicht sagen, wage es aber zu bezweifeln.

Vom Verzehr der Exemplare auf dem Bild darunter ist ebenfalls abzuraten, wo der Apfel bereits gelb anläuft, denn dort hineinzubeißen heißt, den Mund voll Mehl zu haben. Nur in der kurzen Zeit, da der Apfel nahezu matt-weiß erscheint, teils mit leichten Flecken, unter denen er im Fleisch glasige Stellen ausbildet, zeigt den exakten Reifegrad an, um ihn zu verzehren. Und dann ist es jedes Jahr ein neuer Genuß.

Da einem aber nun in dieser einen Woche plötzlich ein ganzer Baum Kornäpfel zufällt, den man unmöglich vernaschen kann, hat er sich eine andere Eigenschaft ausbedungen, um doch noch zu konvenieren, nämlich seine recht bröselige Konsistenz. Der Apfel zerfällt nach kurzem Kochen zu allerbestem und auch lagerfähigem Apfelmus. Wohl bekomm’s!

*

Aber ich hatte Pauken und Trompeten versprochen. Kriegen Sie – und zwar mehr als je! Als ich im Soirée russe anlange, läuft Tanzmusik. D.h. ich tanze hinein zu einem ausklingenden Rondo in a-Moll. Das klinge nach dem Entertainer, gespielt auf einem Zwitter aus Cembalo und Piano, sage ich. Wir hören auch das nachfolgende Rondo in D-Dur, das ich nun durchaus gut kenne. Hier spielt es der Grandseigneur der Entstellung, nicht nach meinem Geschmack, aber mir gefällt die Schnupftuchszene zuvor so gut. Allerdings hatte ich mich mit dem Entertainer reichlich verschätzt. Denn die Rondos stammen aus der Feder Mozarts. Au weia! Dafür stimmte das Instrument, denn in unserer Aufnahme handelte es sich um einen Hammerflügel.

Ich sage, das Rondo in D-Dur habe, ähnlich dem Allemande aus der französischen Suite No. 2 Bachs, eine besonders zeitlose Anmutung. Die Melodie erscheine rhythmisch einerseits recht fröhlich, sei es jedoch harmonisch ganz und gar nicht. Man könne sicherlich aus der bloßen Melodiestimme gewisse Ambivalenzen einer latenten Indifferenz des harmonischen Ablaufs ausmachen. Leider liegen die Noten gerade nicht greifbar.

Zunächst schließen wir Mendelssohn mit seinem letzten Werk, dem Streichquartet Nr. 6 op. 80 in f-moll, ab. Es scheint die Verarbeitung des Todes seiner geliebten Schwester Fanny zu sein, der er kurz darauf ins Grab folgt: ausgesprochen hart, mit nur wenigen lyrischen Momenten, wie eine Instrumenten-Tortur daherkommend. Ich sage, ich stellte immer wieder fest, daß Streichquartette mir nichts sagten. Sie seien entweder ausgesprochen lyrisch und zuweilen auch zweifellos die rechte Wahl für ganz bestimmte Motive, wie etwa im Falle der grandiosen Kaiserhymne Haydns, oder ungeordnet und experimentell, wie dieses hier. Außerdem frage man sich, ob der Komponist einfach zu faul gewesen sei, eine Sinfonie aus dem Material zu machen, oder was überhaupt der Beweggrund für solche Besetzung sei.

Johannes meint, es sei zum einen die intime Komponente der kleinen Runde, andererseits tatsächlich die große Freiheit, die man sich von jeher beim Streichquartett genommen hätte. Daher sei es auch bei den Avantgardisten so beliebt. Es handle sich, so Florian, beim Streichquartett nicht so sehr um Liebhaber- als vielmehr Kennermusik. Quartette seien mehr oder weniger für die Musiker an den Instrumenten geschrieben. Soetwas habe meist mit nicht mehr als einem Zuhörer stattgefunden. Auch Beethoven habe sich – wir schließen ein Beethoven-Quartett an, das mir entfallen ist – hier oft mehr herausgenommen, als er es in einer Sinfonie je gewagt hätte, wo bei derartigen Einstiegen das Publikum bereits den Saal verlassen hätte.

Als wir auf das Goethesche Diktum zum Streichquartett Man hört vier vernünftige Leute sich untereinander unterhalten kommen und Beethoven läuft, sage ich, das sei im Grunde ein Satz, der überhaupt keinen Sinn mache. Wenn sich Goethe eine Unterhaltung wie ein Streichquartett vorstelle, wo also alle dauernd durcheinander redeten, wie in einem Sängerquartett (hier das großartige des ersten Lohengrin-Aktes), das ja nicht umsonst kein Gespräch darstelle, sondern immer nur Gedanken der Figuren, unhörbar für den je anderen, dann werde einem klar, wie wenig Goethe wirklich den Sinn des Zusammenklangs, der Sinfonie, verstanden habe. Er habe alles im Sinne von Worten begriffen, nicht als Musik, die ein Kunstwerk parallelen, gleichzeitigen Zusammenwirkens von verschiedenen Stimmen sei, sondern als Eindimensionales, wie es die Sprache darstelle, in der wie an einer Perlenschnur ein Wort an das nächste gefügt werde. Es wird gescherzt, eher höre man vier unvernünftige Italiener durcheinanderschreien.

Schließlich widmen wir uns Berlioz. Das Requiem soll den Anfang machen. Berlioz beschreibt – selbst überwältigt – die völlig ekstatische Wirkung seines Werkes: Der Pfarrer des Invalidendomes habe eine Viertelstunde lang auf dem Altar geweint und eine Sängerin gar beim Erscheinen der Pauken des Tuba mirum zusammen mit den fünf Orchestern (ja, fünf Orchester!) einen veritablen Nervenzusammenbruch erlitten. Und wenn man so hineinhört und zunächst ein ganz gewöhnliches Requiem dahinplätschern hört, glaubt man nicht recht daran, bis erste Unbehaglichkeiten aufkommen, als er jene harmonisch merkwürdigen Holländer-Raketen aufsteigen läßt, und man schließlich mit den einsetzenden Bläserorchestern tatsächlich in einem THX-Rausch bis zum Höhepunkt völlig vom Stuhl geblasen wird und aus dem Grinsen nicht mehr herauskommt (natürlich über gute Kopfhörer oder eine anständige Anlage).

Im Folgenden sage ich, all die Trompetenfanfaren erinnerten doch sehr an den Lohengrin, insbesondere an die Fanfaren, die er im Aufmarsch der Heere durchschmettern lasse. Allerdings klinge Wagner dagegen fast wie Kammermusik. Gleichwohl seien es, wie ich mit Johannes einig bin, eher Formen, die er kopiere, weniger konkrete Motive (vom Tristan vielleicht abgesehen), höchstens gewisse Harmonien. Florian meint ebenfalls, hier könne jederzeit König Heinrich um die Ecke kommen. Wagner habe jedoch nicht nach Klangeffekt komponiert, sondern sei von einem konkreten Notensatz ausgegangen, den er instrumentiert habe. Berlioz habe von der Harmonie her gedacht.

Beim Nachhören fällt mir nun auf, daß Wagner auch in anderer Hinsicht dieses Requiem kopiert hat. Nämlich die aus dem Nichts der Triforien auftauchenden Bläser Berlioz‘, als er im Liebesmahl der Apostel nach halbstündigem Acapella-Gesang noch wirkungsvoller das versteckte Orchester in der Dresdner Frauenkriche erklingen ließ: Welch Brausen erfüllt die Luft? Welch Tönen, welche Klingen? Erhebt sich nicht die Stätte, wo wir stehn! – Gegrüßt sei uns, du Geist des HErrn!

Bleibt noch der Tristan in Romeo und Julia zu erwähnen. Der zweite Satz der Romeo-Sinfonie beginnt tatsächlich recht ähnlich zur Ouvertüre des Tristan. Sogar die Instrumentierung und Stimmung gleichen sich. Aber hier wie so häufig, wenn Wagner vorgeworfen wird, er hätte gekupfert, ganz besonders, wenn alljährlich jemand den Tristanakkord in früheren Werken findet: Im Tristan geht es nicht um diesen einen Akkord und es geht auch, wie im Falle von Berlioz, nicht um die reine Notenfolge des Beginns, die noch nicht einmal im ersten Intervall übereinstimmt. Nein, der Witz liegt beim Tristan in einem ganzen Musikstil, den Wagner um diesen Akkord herumgeschrieben hat (KuI S. 495). Die bloße Tonfolge ohne den Akkord ist ebenso wertlos wie der bloße Akkord ohne das, was sich daraus entwickelt (wie atonale Momente bei Bach), nämlich eine Oper ohne harmonischen Ruhepunkt, die äußerste Gratwanderung musikalischer Formgebung in der Musikgeschichte.

 

 

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