Die Beethoven-Sinfonien kurz kommentiert . Komposition, Interpretation, Déjà-écoutés

Wie vor etlichen Jahren schon mit Bruckner, habe ich im Dezember nach langer Zeit noch einmal die Beethoven-Sinfonien (in verschiedenen, vor allem Aufnahmen des mittleren 20. Jahrhunderts) Tag für Tag hintereinanderweg gehört, um die kompositorischen Entwicklungslinien, die historische Einbettung und schließlich auch die bei Beethoven so wichtigen verschiedenen Interpretationen eng beieinander zu haben und beurteilen zu können. Die Kurzkommentare, die ich bei Instagram zu einzelnen ausgewählten Szenen, ganzen Sätzen, den Sinfonien überhaupt und ihrer Entwicklung einzeln veröffentlicht habe, sollen hier einmal im Ganzen für einen besseren Gesamtüberblick wiederholt sein.

Sinfonie 1 & 2 bleiben aufgrund der ganz im Zeitkolorit um 1800 verhafteten Kompositionsweise unbeachtet.

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Sinfonie No. 3 „Eroica“ — Aufnahmen: nur Karajan 1977

1. Heute mal ein Déjà écouté aus Wikipedia: Mozart hat die Eroica komponiert (es erklingt die Intrada von Bastien und Bastienne (KV 50))

2. Kopfsatz: Eigentlich nichts sonderlich Herausragendes, zumal das Hauptmotiv von Mozart stammt, aber mir scheint hier vom Kompositionsstil her die moderne Sinfonie erfunden zu sein: Solche weitgespannten Crescendi (Bruckner!) bspw. oder überhaupt die Heftigkeit und Dynamik der Instrumentierung sind revolutionär!

3. Nietzsche zu den déjà écoutés Beethovens: Der Wanderer und sein Schatten, § 152 (Fund von @dissidentum)

4. Auch das Adagio, der Trauermarsch, völlig aus der Zeit gefallen! Wüßte nicht, wo so etwas um 1800 noch stehen sollte. Ja, man hat passagenweise (harmonisch) das Gefühl, es sei 100 Jahre später (post-spätromantische Vereinfachung)

5. Scherzo: abgesehen von dem ungewöhnlichen Stakkato und dem Schostakowitsch Holzgefipsel ziemlich konventionell. Besonders zweite Hälfte im klassizistischen Jagdhornton. Solche Menuette mit einzelnen Besonderheiten hat’s auch vor 1800 gegeben.

6. Ich glaube, hier (Tonbeispiel) hat Nietzsche (siehe 3.) auch „Es tanzt ein Bibabutzemann“ gehört.

7. Ist schon sonderbar: Auch das Finale mindestens unaufgeräumt. Was für ein Kontrast zwischen den ersten beiden und letzten beiden Sätzen! Aber zwei interessante Punkt:

7.1. Der plötzlich einsetzende Sprung in die ungarische Puszta. Schon fast im Lisztschen Satz, gab es das so überzeugend vorher auch nicht. Wenngleich hier völlig willkürlich eingefügt, eher ein witziges Durcheinander.

7.2. Das breite Blech über tänzelnden Streichern. Kenne ich so ausdaurnd (fast penetrant!) auch aus dieser Zeit nicht (auch die Puszta-Szene schon). Und was ist das sonst als Wagners Blechsatz! (sogar gelegentlich harmonisch schon romantisch)

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Sinfonie No. 4 — Aufnahmen: nur Karajan 1953

1. Kopfsatz: Nach einer unverschämt langen und sowohl instrumentatorisch als auch harmonisch seichen Einleitung (ja, ja Effektverstärkung) nett jubilierendes Hauptthema. Aber vor allem im Detail so ungewöhnlich, daß es doch interessante bleibt, z.B. hier der für 1806 harmonisch nicht ganz triviale Abgang (Tonbeispiel)

2. Adagio: Hier also hat der 20-jährige Wagner die Inspriration für seine kleine Sinfonie her und das Timbre seines gesamten frühen Werkes. Daß er seinen Beethoven gut kannte, war mir ja klar. Aber das ist das früheste Auftreten des Wagner-Tons, das ich kenne.

3. Man könnte hier alle möglichen Passagen aus den Opern bis zum Lohengrin bringen, aber in der E-Dur-Sinfonie kommt es zum ersten Mal (Tonbeispiel). Und nicht zufällig als er ausnahmsweise eine Sinfonie schreibt: Beethoven-Nachahmung. Daß diese aber auch seinen typischen Wagnerklang betrifft, ist fast etwas schmerzlich für mich.

4. Andererseits ist es schon hier die Melodie, die Wagner auszeichnet. Wären es nur die Versatzstücke des Adagios der 4ten, wäre es eben „nur“ das Adagio der 4ten, und nicht bereits die Vorstufe zum „Brautzug zum Münster“ aus dem Lohengrin, der hier bereits 1834 anklingt.

5. Das Scherzo typisch Beethoven mit dem bekannten Hauptthema. Mich wundert aber, daß er das nicht zu einem längeren Tutti verarbeitet hat. Im piano führt er es ja sinnvoll fort. Komisch. So ist der Jubel einfach zu kurz. (Karajan?)

6. Finale: Typischer Beethoventon, aber eben nur Ton, keine sonderliche motivische Idee. Struktur sehr eine Ankündigung der 5ten. Dagegen war die Dritte wirklich sonderbar.

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Sinfonie No. 5 — Aufnahmen: Furtwängler 1954 . Karajan 1954

1. Diese Sinfonie ist im Grunde ein Rückschritt: Nach der 3. und 4. nun zurück zu den simplen Motiven des 18. Jahrhunderts. Aber die Rhythmik des 18. Jahrhunderts mit Wucht und subtiler harmonischer Unterwanderung zu einer völligen Neuheit geformt. Unglaublich eigentlich, diese völlig neue Klangwelt. Und das ist das Entscheidende, was die 5te vollkommen unklassizistisch klingen läßt: die frühromantischen Harmonieläufe. Man erkennt sie bloß kaum, weil sonst an dieser Sinfonie – neben der Wucht – sonst alles ausgesprochen alt, also harmlos, ja völlig natürlich klingt.

2. Kopfsatz: Karajan 1954 rhythmisch völlig versemmelt: Was sollen diese Beschlenigungen in Takt 8 und 52? Meine Vermutung: Eine leichte Beschleunigung kommt der Beschwingtheit dieser Nachhallens des Hauputmotives entgegen. Aber dann muß man es ganz sanft und unmerklich tun. Das ist aber ein Schlag ins Gesicht. Die Rhythmik ist aber überhaupt das entscheidende Kriterium im Kopfsatz der 5ten, da man sonst nicht allzu viel falsch machen kann.

3. Dagegen Furtwängler 1954 exakt richtig in den Tempoverhältnissen, wenn er auch insgesamt etwas zügiger sein könnte. Ende des Beispiels und Problem der Aufnahme (Tonbeispiel): zu wenig legato. Das kann/soll man im Tutti machen.

4. Herrlich die Dampfhammerschläge (Tonbeispiel) in der „Beschlenigung“ (eigentlich ein kleines Ritardando). Das habe ich so noch nie gehört.

5. Schluß des Kopfsatzes bei Furtwängler: ausgesprochen Wuchtig und retardierend bis ins Komische hinein, aber große Wirkung.

6. Wem, wie mir, das Adagio der 5ten immer zu simpel war, der muß diese Furtwängleraufnahme hören! Schon die besonders klare Trennung der 3. und 4ten Note ist ein extrem intelligenter Schachzug (wie sich herausstellte zeittypisch). Aber wie differenziert er in Tempo und Lautstärke dann die Streicher führt, ist einzigartig! (macht Furtwängler übrigens 1937 noch nicht so). Ich sage so etwas nicht leichtfertig, ja, ich hab’s noch nie gesagt! Aber das ist ein Dirigenten-Geniestreich! Habe ich noch nie so gehört. [Hierzu mein kleiner Vortrag: Furtwängler und Beethoven . Das schwache Adagio der 5. Sinfonie]

7. Ganz ehrlich, ich habe die herrliche Baßstimme noch nie gehört (Tonbeispiel Furtwängler spät im Satz). Überhaupt sind die tieferen Noten auch in den Orchesterschlägen des 2. Satzes sehr angenehm verstärkt. Die legen ja meist erst den besonderen harmonischen Gehalt offen!

8. Scherzo und Finale gewohnt genialer Beethoven. Da ist jedes Wort überflüssig. Furtwängler nicht an jeder Stelle mit der erwarteten Klarheit und entsprechendem Effekt, aber wieder andere besonders stark und fein. Jedenfalls sehr hörenswert.

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Sinfonie No. 6 „Pastorale“ — Aufnahmen: Furtwängler 1954 . Mengelberg 1940

1. Kopfsatz mit einigen Ähnlichkeiten zum Scherzo/Finale der 5ten, sozusagen im direkten Anschluß spielbar. Müßte man genauer schauen, ob das rhythmisch, harmoisch oder sogar motivischer Natur ist. Sind ja auch gleichzeitig komponiert.

2. Dachte mir schon, daß diese wieder klassizistisch anmutende Schäferidylle Karajan liegt. Er ist viel schneller und das gibt machen Stellen den bekannten rhythmischen Schwung, andere Passagen kommen nur bei Furtwänglers Tempo heraus. Man müßte es hier einmal mit stark schwankender Tempoführung probieren. Dann würde die Komposition auch nicht so zerklüftet wirken. Beethoven ist hier sehr kleinteilig.

3. Die Kompositionsmethode ist sozusagen das Gegenteil sowohl der in rhythmischer Gleichmäßigkeit voranschreitenden 5ten als auch den ähnlichen, ewigen Brucknerschen Steigerungen und Harmonieläufen ganzer Passagen – nur daß es eben immer nur einen Durchlauf gibt. Bruckner udn auch der Beethoven der 5ten hätten das ewig ausgekostet. — Das weißt darauf hin, daß mindestens an solchen Stellen das Tempo reduziert werden muß. Aber es zeigt vielleicht auch, wie der Stil der 5ten etwas ungelegen in die Schäferidylle der 6ten interferiert.

4. Vor kurzem noch diese Detailstelle (Tonbeispiel des Pizzicatos nach dem Hauptthema) besprochen, für die ich forderte, sowohl ritardando also auch diminuendo zu spielen (also ein Ausklingen des Pizzicato), was aber kein (moderner) Dirgient macht. Und wer macht’s nun doch? Furtwängler! (Das schmeichelt mir : )

5. Im nächsten Anlauf ohne diminuendo, fast crescendo und herrlich verzögertem „Aufheben“ der Streicher. Der Mann hat wirklich Detailarbeit geleistet!

6. Das Hauptthema des 2. Satzes muß man sich ja auch erstmal auf der Zunge des Jahres 1808 zergehen lassen! Schon die (zunächst abgebrochene, dann erst im zweiten Anlauf aufgeführte) Hinführung in den Harmoniewechsel… ein Ufo für die damaligen Hörer, ein wunderschönes Ufo.

7. Mein vielleicht nur ganz persönliches Problem mit dem 3. Satz: Weil das Adagio der Rheinischen diesen Themenkern zu einer wunderschönen Melodie weiterspinnt, ist das unausgeführte Thema hier unbefriedigend. Schumann hat sehr genial fortgeführt.

8. Diesmal nicht störend, aber hier kommt Siegfrieds Rheinfahrt her (Tonbeispiel des kurzen Hornthemas): Nicht störend, weil Wagner auch nicht weitergekommen ist und den Faden des Themas an derselben Stelle verliert.

9. Das Tanzthema etwas vorbereitet, aber im Grunde so unmotiviert wie der Pusztaritt in der Dritten (wieder ungerade). Ja, der ganze Satz ein aus schönen Melodien zusammengewürfelter Transitionssatz. Vielleicht der Charakter der ganzen Sinfonie?

10. Mengelberg plötzlich langsam! (außerdem mit schönen Akzenten) Und siehe da: Das Thema wirkt! Ja und plötzlich funktioniert der ganze Satz! Also 3. Satz von Mengelberg hören!

11. Auch das Gewitter (4. Satz) bei Mengelberg effektvoll, wie eine Naturgewalt, fein ausgearbeitet. Bei Karajan dagegen einfach nur Krach.

12. Finalsatz, Hauptthema: reines 18. Jh. mit halbromantischem Harmoniesprung. Und breit, wie es das 18. Jh. nie gewagt hätte.

13. Der Finalsatz von Furtwängler eindeutig am souveränsten. Mengelberg fehlt die Wucht, Karajan wieder undifferenziert im ff. Aber ich könnte mir vorstellen, daß das die Aufnahmetechnik ist. Obwohl 1954 klingt es deutlich schlechter als Mengelberg 1940. — Allerdings ist der Satz kompositorisch schwächer. Das recht altmodische Motiv hält keine 10 Minuten lebendig. Die anderen Sätze haben da schlicht mehr Material verarbeitet.

14. Einsicht des Tages: Warum lieben Dirigenten durchgängig Beethoven so sehr? — Diesem ersten Auftreten der komplexen modernen Sinfonie (mit zugleich eingängigen und publikumswirksamen Themen) fehlen die Speilanweisungen noch. Die Komplexität erlaubt aber vielfältige Variationen der Interpretation. Folglich ist Beethoven: 1. Spielwiese, 2. Schleifstein und 3. trennt er die Spreu vom Weizen. Dadurch muß auch nicht jeder Takt genial komponiert sein: Die Interpretationsdichte macht es trotzdem hochinteressant.

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Sinfonie No. 7 — Aufnahmen: Mengelberg 40 . Karajan 77 . Furtwängler 43 . Kleiber 80er (auch: Tokio)

1. Keine zwei Sekunden (in den Kopfsatz) und ich muß schon wieder anhalten: Bruckner 3! Wenn auch der letzte Ton nicht tief genug ist.

2. Nicht so voreilig, Wangenheim! In der 1. Wiederholung des Themas kurz darauf erklingt exakt das Hauptthema der Dritten Bruckners.

3. Bei der deutlich höheren Tonqualität bei Mengelberg 1940 hört man im 2. Anlauf des Hauptmotivs sehr schön die Hörner, die eben auch die Brucknersche Instrumentierung darstellen. Das ist natürlich kein Zufall: zwei Hauptthemen. Wie bei der 6ten und Schumann: Die Beethovenschen Themenrudimente wurden von den „Epigonen“ genial fortgesetzt.

4. Die 1. Hälfte des Kopfsatzes ist nur bei Furtwängler im Fluß, schön zusammenhängend, dann sich zerfahrend und teils schumannesker Satz. Diesen zweiten Teil bringt Mengelberg überlegen. — Das ist wieder so ein typischer Beethovenscher Steinbruch, aus dem mehr entnommen und weiterentwickelt werden kann als es selbst einen Monolith bildet. Nur abschnitts-, d.h. themenweise hängt der Tonstz zusammen.

5. Dieser teils der unaufgeräumte „Steinbruch Beethoven“ ist es wahrscheinlich auch, der die nachfolgenden Komponisten Respekt haben, sich aber nicht als Epigonen fühlen ließ. Wagnerhingegen ist so genial, daß dieser Effekt eintritt, und zu einer gewissen Starre führt. Bei Beethoven hingegen haben sich alle an etwas anderem Unfertigen seiner Sinfonien bedient und es zum Stil gemacht: Schumann, Wagner, Bruckner usw.

6. Kleiber im Adagio viel theatralische Schauspielerei, aber dafür umso uninspirierteres Musizieren. Dagegen sehr feine Diferenzierung bei Mengelberg, der nur die ff-Passagen etwas leer, d.h. löchrig, nimmt. Furtwängler mutet hier Karajansch an, und Karajan selbst natürlich auch. — Aber der Satz, so bekannt und eindringlich das Hauptmotiv sein mag, ist bei aller Folgerichtigkeit der 1. Hälfte danach recht beliebig und wird nur von der Mengelbergschen Klangfarbigkeit noch am Leben gehalten.

7. Das Scherzo bei Kleiber rein klassizistisch. Dachte, ich höre Musik von spätestens 1790, komponiert von irgend einem 2.-klassigen Duodez-Hofkomponisten. Daß das so gut funktioniert, sagt durchaus etwas über die Komposition aus: das Scherzo ist im Grunde ungeheuer altmodisch, wenn auch motivisch nicht schwach. Mit Furtwängler dagegen ein vollkommen anderer Satz: extreme Bipolarität in Tempi und Dynamik. Nimmt es wie ein Brucknersches Scherzo. Natürlich viel interessanter, aber wahrscheinlich hat historisch und partiturtechnisch Kleiber recht.

8. Im Scherzo rastet Mengelberg aus! Das Konzerthaus bricht zusammen! Er kann das ff es doch, wenn er will. Vielleicht besser als Furtwängler. Aber ich habe mal durch die Partitur geblättert… ich glaube, das muß man als Beethoven-Schönfärberei bezeichnen. Keine Frage: viel interessanter, aber nicht was dort steht.

9. Würde sagen, Karajan ist am nächsten an dem, was Beethoven gemeint hat (auch hier das Tutti zu langsam, nicht Charakter der Komposition, aber sonst gut). Wer ordentlich Zunder haben will: Mengelberg oder Furtwängler. Da wäre aber wahrscheinlich Beethoven selbst erschrocken gewesen – was allrdings nichts schlechtes ist.

10. Finale: Schon bei Karajan (1951) der Eindruck eines Stücks aus dem vorangegangenen Jahrhundert. Aber da hilft auch kein Furtwängler mehr! diesem Satz das Etikett „1775“ abzureißen! Die Trompetenstöße klingen sogar eher nach 1735. Daß schon das Scherzo eigentlich reines 18. Jh. war: kein Zufall! Die wenigen harmonischen Wunderlichkeiten (die aber auch 1775 gelegentlich vorkommen), hier hauptsächlich in Form ein paar vereinzelter, herber Orchersterstöße, gibt zudem Karajan besser wieder.

11. Auch Mengelberg muß passagenweise zugeben, daß der Satz 30 Jahre veraltet ist, schafft aber vielerorts den Eindruck, wir hätten es mit einem veritablen Beethoven-Satz zu tun. Alle Achtung! Er ist wirklich eine Entdeckung. — Schon aber, daß man die beiden Sätze rein im Stil Mozarts & Co. geben kann, ist ein deutliches Zeichen. Was sich Beethoven da geleistet hat…

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Sinfonie No. 8 — Aufnahmen: Mengelberg 1943 . Abendroth 1944 . Walter 1958 . Furtwängler 1953 . Karajan 1955

1. Es ist schon kurios: Den Kopfsatz der 8. bringt nun Mengelberg ohne jedes Engagement. Abendroth läßt wenigstens fühlen, daß es harmonisch und dynamisch ein Beethoven-Satz ist. Allerdings einer mit sehr schwachen Motiven, weshalb kompositorisch recht austauschbar.

2. Bruno Walter (1942) sehr lyrisch, Karajan (1955) etwas starr, wenn auch schöne Instrumententrennung. Am ausgewogensten Furtwängler (1953). Auch er kann alerdings die schwache Motivik freilich nicht heilen.

3. Auch das Scherzo (2. Satz) nur in den ersten Takten als seiner Entstehungszeit zugehörig zu erkennen. Damit nun seit der Mitte der 7. Sinfonie 4 Sätze im weitgehend klassizistischen Stil. — Am deutlichsten ist der Scherzocharakter bei Abendroth, weil nicht zu langsam. Dadurch auch der harmonisch interessante Beginn am deutlichsten in seinen hintereinander entgegengesetzten Akkorden zu hören. Mengelberg wieder schwach. Furtwängler und Karajan durchschnittlich (und langsam).

4. Ich muß mein Urteil zu Mengelberg revidieren: Ich höre ihn heute immer zuerst und bin jedesmal enttäuscht, keinen Beethoven zu hören. Aber das liegt nicht an ihm, sondern an Beethoven! Denn das Menuett (die Sinfonie hat keinen langsamen, ergo potentiell romantischen Satz) ist nun der Gipfel: Die Pauken-Trompeten-Kombination war Ende des 17. Jahrhunderts modern! Abendroth, Walter, Furtwängler und Karajan täuschen mit langsamem Temp über diesen schon halb barocken Stil hinweg. Da steht aber TEmpo die Menuetto. Und so klingt kein Menuett. Wieder „Schönfärberei“.

5. Das einzig herausstechende Motiv des Finales ist diese abfallende Figur (Tonbeispiel vom Beginn des Satzes). Das kenne ich aber – in genau dieser Harmonisierung – aus einem späteren Stück. Komme nicht drauf! (siehe unten)

6. Furtwängler schafft es wieder am besten , uns das Gefühl einer Beethoven-Sinfonie zu geben… Aber diese Musik wäre überhauupt nur erwähnenswert, wenn wir das Jahr 1790 schrieben. Aber nicht 1812.

7. Vorläufiges Fazit: So wie Wagner zwischen Holländer und Meistersingern seine Akmé hatte, Bruckner von der 2. bis 7., so sind die Beethoven-Sinfonien nur zwischen 3 und 6 (maximal 7,5) interessant. — Freilich, das ist nichts neues. Ich habe schon immer max. 3 Beethoven-Sinfonien gelten lassen. Ich darf nun sagen: mit gutem Grund! Und ich ahne, daß sich das mit der 9. nicht groß ändern wird; jenem „Lied mit 1-stündigem Vorspiel“ (KuI)

8. Ich habe – um das klarzustellen – nichts gegen die romantische Interpretation Beethovens. Aber in diesen rein klassizistischen Sinfonien haben solche Einspielungen nur den Wert, uns zu zeigen, daß wir bei der Beurteilung der Komposition nicht oberflächlich sein dürfen (allg. Eindruck), stondern streng nach Motivik, Harmonik und Entwicklung urteilen müssen. — Nur in den wirklich schon frühromantischen anklingenden Sätzen Beethovens trägt diese Interpretation zur Komposition und zum Verständnis bei. Das krampfhafte Romantisieren, wo nichts Romantisches ist, scheint mir Beethoven-Apologetik zu sein. (Ich muß den ganzen Beethoven einspielen und das muß ja einen einheitlichen Stil haben…)

9. Das Déjà écouté aus 5. stammt, wie mir nun einfällt aus dem Lohengrin. Zunächst gedacht: aus dem Jubelchor nach „Durch Gottes SIeg ist jetzt dein Leben mein…“, dann: „Aufmarsch der Heere“. Tatsächlich schon bei der Ankunft Lohengrins: „Ein unerhörtes, nie gesehnes Wunder!“ — Hört man nach 8 Beethoven-Sinfonien unvermittelt in ein paar Stellen des Lohengrin hinein, so bleibit einem (freilich ungerechtfertigt) nichts übrig, als zu denken: Von Mozart aufwärts beginnt der Darwinismus, aber die Musik, die fängt doch erst bei Wagner an. — Natürlich ist eine Sinfonie dazu unvergleichlich, denn es evoziert das „Gesamtkunstwerk“ zugleich unzählige erzählerische Opernemotionen, welche die Sinfonie nicht besitzen kann. Aber die 9te tendiert ja schließlich auch in die Oper. Es bleibt also spannend!

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Sinfonie No. 9 — Aufnahmen: Mengelberg 1940 . Furtwängler 1953 . Karajan 1955 . Abendroth . Walter 1959

1. Kopfsatz: Beethoven ist wieder auferstanden! Es gibt wieder ein Hauptmotiv und Beethoven-Rhythmik. Allerdings ist die Verarbeitung (z.B. etwa kurz vor 2/3 des Satzes und am Schluß harmonisch teils auffällig oberflächlich. Außerdem hätten er 10 statt 15 Minuten statt 15 gereicht. Das Material ist hier überdehnt. Da geht der Vorwurf des 1-stündigen Vorspiels nämlich los.

2. Sehr auffällig ist schon zu Beginn ein fast Brucknerscher Urnebel und die dazu gehörige Stiegerung aus demselben heraus. Der Schluß des Satzes hätte sogar exakt so beim frühen bis mittleren Bruckner stehen können (wie gesagt bis auf die hinten heruas teils repetitive Harmonik).

3. Abendroth ist der einzige, der dem Satz Zusammenhang zu geben vermag. Furtwängler ist zudem so langsam, daß nicht nur der harmonische, sondern auch der motivische Zusammenhang verlorengeht (Celibidache-Phänomen). Aber auch die übrigen wissen mit der Notenmasse eigentlich nichts anzufangen. Abendroth schafft es durch klug gesetzte, starke Ritardandi und exzessive Variation der Dynamik (vor allem kleinteiliger Natur), eine Entwicklungslinie in den Satz zu bringen, die nicht nach Beliebigkeit klingt. Das macht das Scherzo kompositorisch freilich nicht besser, aber hörbarer.

4. Das geht so weit, daß er in der o.g. Stelle mit der schwachen Harmonik (4. Fünftel), die hier vollkommen auf der Stelle tritt, die Aufmerksamkeit des Hörers durch die extreme Dynamikvariation auch innerhalb der Noten weitgehend ablenken kann und der Stelle damit einen ganz neuen, d.h. überhaupt einen Sinn verleiht.

5. Bin ich taub, oder ist das Thema des Scherzos bloß eine Variation des Kopfsatzthemas?

6. Das Scherzo ist zwar nicht mitreißend, hat aber schon „von allein“ recht guten Zug. Dadurch funktioniert es nicht nur in gewöhnlichem Tempo bei guter Ausgewogenheit unter Walter, sondern auch etwas differenzierter mit gemächlichen Passagen bei Furtwängler.

7. Das Adagio der 9. – trotz angenehmem Motiv und großer Wiedererkennbarkeit – leidet wie die beiden ersten Sätze unter zu langem Dahinsiechen. Auch hier hätten 10 Minuten statt der Viertelstunde den Hörgenuß beträchlich erhöht. Furtwängler zum Teil noch so langsam, daß erneut der motivische Zusammenhang verlorengeht.

8. Finale: Bemerkenswert, daß Beethoven den Schlußeffekt verschmäht, indem das Hauptmotiv nicht noch einmal erklingt. Und das ist ja nun keine Wagner-Erfindung: Das zweitbeste zu Beginn, das Beste zum Schluß.

9. Ich will nicht kleinlich werden mit den déjà écoutés, aber die ersten beiden Töne (des Hörbeispiels) leiten in derselben Harmonisierung auch „Morgenlich leuchtend“ ein.

10. Die zweite Hälfte des Schlußsatzes mal wieder von Furtwängler überlegen: er gibt dem sonst recht strukturlos scheinenden Satz eine Linie. Auch ist die Chorführung ausgezeichnet, teils wagnerisch umgedeutet und auch die rechten Instrumente im Vordergrund.

11. Das ist ja wieder unglaublich: Die letzte hier gespielte Harmonisierung (Hörbeispiel) und Rhythmisierung dieses Motivs kommt in Wagners „Steuermann laß die Wacht vor“ (Hörbeispiel) [und damit auch, sogar mit einem Ton mehr Übereinstimmung am Schluß im Tristanschen Seemannchor, wo Wagner sich mit ebendieser Stelle selbst zitiert]

12. Ich frage mich: Ist das Hauptmotiv des Finales romantisch (auch in seiner sequenzweisen, langen Fortentwicklung an den Pilgerchor mahnend) oder wie hier selbst Furtwängler spielen läßt: an Carpentiers Te Deum um 1700 erinnernd.

13. In dem vielleicht holzschnittartigesten Chorsatz des Finales (Hörbeispiel) ist es Furtwängler, der ihm am ehesten das Barocke nimmt. Die ständige Frage in diesem Satz: Ist das eine altmodische Missa oder die Einleitung in das melodische 19. Jahrhundert? Und die Antwort ist vermutlich: Beides! Es ist das Scharnier zwischen 18. und 19. Jahrhundert.

Damit ist der Beethoven Zyklus beendet, ich wünsche allen Mithörern ein Frohes Weihnachtsfest!

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