Oswald Spenglers Revolution der Geschichtsphilosophie im „Untergang des Abendlandes“

Zum Video: https://youtu.be/PfyRJecf0fk

Heute stelle ich die Revolution, nämlich die neuartige Universalgelehrtheit, die seit Spengler für die Geschichtsphilosophie nötig ist, zusammen mit dem Vergleich all der unzureichenden Entwürfe vor, die sich vor und nach Spengler um eine historische Theorie gekümmert haben. Außerdem betrachten wir Chamberlains „Grundlagen des 19. Jahrhunderts“ als einen entscheidenden Ideengeber dieses neuen Polyhistorismus und ermitteln anhand der Häufigkeit gewisser historischer Namen, weshalb „Der Untergang des Abendlandes“ zusammen mit „Kultur und Ingenium“ die beiden einzigen umfassenden Geschichtsphilosophien darstellen.

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14 Gedanken zu “Oswald Spenglers Revolution der Geschichtsphilosophie im „Untergang des Abendlandes“

  1. Andreas Otto

    Sehr geehrter Herr Wangenheim,

    ich kann mir gar nicht vorstellen, daß Sie Egon Friedells ‚Kulturgeschichte der Neuzeit‘ (1927-31) nicht berücksichtigt haben. Friedell war ja doch – obwohl manchmal ein wenig salopp und draufgängerisch, dafür aber umso unterhaltsamer – der letzte große Universalhistoriker unserer Zeit.

    Die o. g. Kulturgeschichte kommt bei Sophokles auf 13, bei Descartes auf 51, bei Kant auf über 100, Bach 17, Rembrandt 19, Augustus 5 und bei Gauß 7 Treffer. Sollten Sie Friedell noch nicht kennen, dann wäre er, auch ganz ohne Wortstatistik, meine Leseempfehlung.

    Danke übrigens für Ihre öffentlich gemachte Beschäftigung mit Spengler. So bin ich schon vor langem auf Sie gestoßen. Nur zu gern hätte ich den Untergang des Abendlandes mal als von Ihnen vollständig eingelesenes Hörbuch gehabt. Sie haben eine angenehme Stimme, die bei der Lesung durchaus professionell daherkommt.

    Herzlichen Gruß,
    A. O.

    Nachlese bei: https://archive.org/details/KulturgeschichteDerNeuzeit/mode/2up

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  2. Daß Friedell hier nicht vorkommt, hat den einfachen Grund, daß er 1. eben gerade nicht zu den Universalhistorikern zählt, 2. nur einen kleinen Ausschnitt aus der Geschichte betrachtet und 3. auch keine Geschichtsphilosophie geschrieben hat.

    Er benennt sein Werk auch sehr richtig eine Kulturgeschichte (dazu auch nur der Neuzeit). Das steht für eine pointierte historische Nacherzählung – und genau das ist es auch. Daß er sie erst im Spätmittelalter beginnen läßt, führt nicht nur schlicht zu einem Mangel an behandeltem Material, sondern es ist freilich so auch unmöglich, ein Prinzip der Geschichte zu finden, das nun mal mindestens auch für die Antike gelten muß. Aber das hatte er auch gar nicht vor.

    Daß dennoch Sophokles vorkommt, hat mit einem Mangel meiner Namenswahl zu tun. Denn ich habe nicht bedacht, daß freilich jemand, der die Literaturgeschichte der Neuzeit betrachtet, auch Sophokles erwähnen muß, insofern die Tragödiendichter der Neuzeit selbstverständlich Sophokles rezipiert haben. Und bei der Durchsicht der Stellen (von denen mir aber Google Books deutlich weniger zeigt als Sie angeben) wird dann auch sehr schnell deutlich, daß es um konkrete Fragen der Sophokleischen Dichtung nicht geht. Etwas ganz ähnliches gilt von Gauß. Friedell kannte natürlich den „Untergang des Abendlandes“ und wußte daher, daß er auch das neu eingeführte Feld der Mathematik zu beackern hat. Es wird aber allzu deutlich, daß er außerhalb der Schulzeit keine mathematische Bildung erfahren hat, was ihn nicht sonderlich qualifiziert, über Mathematik zu sprechen. Jedenfalls sind die Bemerkungen zu Gauß denn auch allesamt auf Lexikonsniveau.

    Sie sehen also, in all diesen Dingen ist er bspw. Toynbee nicht voraus, der allerdings wirklich die gesamte Weltgeschichte durchgeht (ebenfalls ohne geschichtsphilosophischen Ansatz). Insofern war es ausreichend Toynbee anzuführen. Ich danke Ihnen dennoch für den Hinweis und werde vielleicht zu Beginn des nächsten Videos noch ein paar nachtragende Sätze zu Friedell verlieren, da er nun einmal recht weit bekannt ist.

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  3. Dr. Caligari

    Sehr geehrter Herr Wangenheim,

    zunächst einmal möchte ich Ihnen hiermit den Respekt aussprechen. Diese quantitativ-vergleichende Vorgehensweise ist schon gut. Allerdings habe ich einige kleine Einwände, die ich weiter unten noch in der gebotenen Kürze zu sprachen bringen will.

    Grundsätzlich bestätigen Sie mit Ihrer Reihe allerdings mein Vorurteil, dass in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts Geschichtsphilosophie und Metaphysik zugleich „geendet“ haben. Wahrscheinlich aus den bekannten Gründen.
    Warum schreibe ich „Geschichtsphilosophie und Metaphysik“? Oberflächlich gesehen haben diese beiden Phänomene wenig bis nichts miteinander zu tun. Mein Verddacht geht aber dahin, dass beide Unternehmungen grundsätzlich den selben Zweck verfolgen. Mit anderen Worten, das selbe Bedürfnis im Menschen befriedigen, den echten oder vermeintlichen „Blick aus der Totalen“, in welcher dann die Perspektive des Individuums genauso untergeht wie die Modeerscheinungen des jeweiligen Zeitgeistes.
    Es versteht sich von selbst, dass dieses Bedürfnis nur von einer Minderheit von Individuen überhaupt verspürt wird und es daher für eine zunehmende Massengesellschaft kaum mehr nachfrage nach solchen Entwürfen gibt. Eine Person, die sich dann noch an die Schreibmaschine (oder heute den Laptop) setzt, um Metaphysik oder eben Geschichtsphilosophie zu betreiben, tut dies aus einem echten Bedürfnis heraus.

    Abgesehen davon lässt analytische Philosophie und Postmodernismus natürlich keine solchen „großen Erzählungen“ zu.

    Ihr Video liefert zugleich zwei Beispiele für Fehleinordnungen. Zunächst einmal ist Harari – soweit ich das ohne Lektüre ausmachen kann – nur der Verfasser „populärwissenschaftlicher“ Übersichtswerke, niemand der umfassende Ansichten zur Menschheit vermitteln will. Ihn mit Spengler, Hegel und Co. in eine Reihe zu stellen, scheint mir unangemessen.
    Das zweite Beispiel würde ich mal als „Marx-Komplex“ einordnen.
    Was Marx da eigentlich abliefert oder abzuliefern wünscht, das ist ja kein philosophisches Werk, dass die Weltgeschichte verstehbar machen will, sondern eine sozio-ökonomische Theorie über die angeblichen „Entwicklungsgesetze der Produktionsmittel“.
    Selbst wenn Marx mit seinen Gedanken zu 100% recht hätte, so würden wir damit zunächst einmal nur eine soziologische Fachtheorie vor uns haben, keine Geschichtsphilosophie.
    Um es durch eine Analogie zu veranschaulichen: Das ist genauso als wenn ich Literaten vergleiche Thomas Mann, Goethe, Satire usw. und dann einen Kitschroman und ein Sachbuch über Kernphysik daneben lege. Sodann beginne ich zu vergleichen, sprachliche Schönheit, vorkommen von Themen wie „Liebe, Erwachsenwerden, Umgang mit der Endlichkeit“, Bezug zu anderen Literaten, psychologischen Realismus usw.usf.
    Es ist doch klar, dass dabei die letzteren beiden Werke ihre Wirkung nicht werden entfalten können.

    Was meines Erachtens noch zu behandeln wäre, das ist die Frage nach den ausgewählten Namen. Cartesius ist für die Geschichte der Philosophie sicherlich entscheidend, Kant ebenfalls. Für jemanden der ein anderes Augenmerk wählt, könnten dagegen andere Philosophen entscheidend sein. Zum Thema „Philosophie im Osten“ (Japan usw.) hätte ich ohnehin einige Fragen…. Doch sebst aus westlicher Perspektive könnte Hobbes und Wolff wichtiger sein als Cartes.
    Was bei den Philosophen meiner Ansicht nach noch fair ist, wird fraglich bei den anderen Gebieten: Wieso Rembrand und nicht Michelangelo? Wieso Luther, aber nicht auch Calvin oder Thomas von Aquin? Wieso Gauß und nicht Euler oder Euklid oder Newton und Leibniz usw?
    Bach ist sicherlich gut und fair, aber man könnte auch das vorkommen anderer Komponisten anfragen. Ich gehe davon aus, dass sie das ohnehin schon getan haben und die Tabelle auf Youtube nur nicht zu voll sein sollte.
    (Das erinnert grob an auch Galtons Schwierigkeit, für seine Studie „Genie und Vererbung“ eine möglichst neutrale Liste theologischer oder „religiöser Genies“ zu finden und selbst da stellt er fast ausschließlich christliche Genies dar. Ein Katholik oder Atheist könnte da eventuell zu ganz anderen Schlüssel kommen…)

    Ich hoffe, dass mein kleiner Leserbrief Ihnen zumindest nicht lästig ist.

    Wohlgesonnen verbleibend,

    Caligari.

    P.S.: Existiert eigentlich das Forum über Geschichtsphilosophie noch und wäre es nutzbar?

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  4. Ich stimme Ihren Ausführungen durchgängig zu. Denn Ihre Punkte werden ja bereits im Vortrag von mir zur Sprache gebracht und beantwortet. Insofern ist mir allerdings nicht ganz klar, welche Art von zusätzlicher Antwort Sie noch erwarten. Nur so viel zu Ihrem scheinbaren Hauptpunkt der Namensauswahl. Wie ich bereits mündlich ausgeführt habe, geht es nicht darum die größten oder wichtigsten Namen zu prüfen, sondern solche, die vernünftigerweise in einer umfassenden historischen Betrachtung nicht fehlen dürfen. Auch insofern ist es ein negatives Kriterium und daher nicht nötig die wichtigsten Figuren abzufragen. Aber gerade die Negativität des Kriteriums sorgt dafür, daß drgl. überhaupt sinnvoll ist. Alles andere wäre ja eine Abwägungs- oder Geschmacksfrage. (Das Forum ist schon seit langem tot.)

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  5. Sehr geehrter Herr Wangenheim,

    zunächst danke ich für Ihre Antwort. Ja, mir ist bekannt, dass sie die wesentlichen Punkte bereits zur Sprache gebracht haben. Ich hoffe nicht den Eindruck erweckt zu haben, Ihren Webauftritt zur Selbstdarstellung zu missbrauchen.

    Dennoch habe ich das Bedürfnis, Ihnen eine Video anzuempfehlen, welches ich vor langer Zeit mal gesehen haben:

    Das Video zeigt einen Vortrag von Hrn. Professor Dietmar Hübner, in welchem dieser über die „Philosophie der Geschichte“ spricht. Es geht dabei, ganz im Stile der analytischen Philosophie, um eine philosophische Betrachtung der Geschichtswissenschaft. Geschichtsphilosophie im Sinne von Spengler dagegen wird eher abgetan.
    Referiert wird dann überraschenderweise nicht über einen Analytiker, sondern über einen Postmodernen, der da behauptet „auch Klio (die Muse der Geschichtsschreiber) dichtet“.
    An der Stelle möchte ich die Bemerkung fallen lassen, dass auch dieses Video die analytische Philosophie als letztlich ahistorisch in ihrer Betrachtung erweist. Das ist zwar an sich legitim, aber eben nicht der einzig mögliche Standpunkt.

    Falls Sie es nicht bereits kennen, dürfte es sie interessieren.

    Ich halte Ihre Namensauswahl für insgesamt aussagekräftig.

    Was Twitter angeht, so erinnere ich mich an die Meldung, dass Twitter als eine Art „Organisationsplattform“ des Linksextremismus erkannt wurde. Linke Narrative entstehen also irgendwo, werden auf Twitter popularisiert und anschließend belangen sie in den Mainstream.

    Gruß

    Caligari.

    P.S.: Was mich bei Spengler bis heute so in den Bann ziehen konnte, ist die Betrachtung über den Begriff der Zahl. Wie seltsam anders er das Problem behandelte. Offenbar war die Fragestellung selbst ja virulent wie Schröder, Frege oder Russell beweisen.
    Nur betrachteten die genannten Autoren diese Frage aus philosophischer und/oder mathematischer Richtung, im Wesentlichen mit Mitteln der Logik – nur Spengler schien den Mut gehabt zu haben, darüber hinaus eine historische Perspektive einzunehmen.
    P.P.S.: Youtube ist doch herrlich. Da sucht man ein Video über Geschichtsphilosophie und bekommt direkt drie Hörbücher, ein Bibel-Video und diverse andere Vorträge von Analysis bis hin zu „MigrationsexpertInnen“ vorgeschlagen.

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  6. Hübner ist leider ein typisches Beispiel von völliger Unkenntnis der Spenglerschen Theorie. Dennoch ordnet er ihn großspurig in sein merkwürdiges System der nach-Hegelianischen Geschichtsphilosophie ein. Dann sagt er 19:22 ff daß im Gegensatz zu diesem „Hegelschen Paradigma“ (für sich schon eine unsinnige Einteilung), dem auch Spengler folge, Andere die Geschichte als „Fortgang einzelner Völker und Kulturen“ aufgefaßt hätten. Naja, und jeder, der auch nur mal einen Wiki-Artikel über Spengler gelesen hat, weiß, daß Spengler genau das macht. Es ist immer wieder verblüffend mit welcher Chuzpe die akademische Wissenschaft den gröbsten Unfug verbreitet. Solche „Kapazitäten“ bringt unsere Wissenschaft hervor, alle von der unbestechlichen wissenschaftlichen Methode geleitet und nur den Fakten folgend, alles präzise am Zitat belegbar und über jeden Zweifel erhaben – nur eben in Wirklichkeit das vollkommene Gegenteil: Geraune über Dinge, von denen man keinen blassen Schimmer hat. Man muß heute Titel wie Dr. oder Prof. grundsätzlich als schlechtes Omen bzgl. dessen begreifen, was man von solchen Menschen erwarten darf. Auf die sonstigen bis dahin geäußerten Unsauberkeiten verzichte ich angesichts dieses intellektuellen Totalausfalls.

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  7. René Schneider

    Ich schaue mir gerade Harari’s Video-Serie zu seiner Geschichtsphilosophie an (https://youtu.be/ATOOnZvk0Is) und dort vertritt er die Ansicht, dass die Geschichte zumindest im Hinblick auf die Größe bzw. Diversität von Gesellschaften nicht zyklisch ist, sondern eine Richtung kennt: Globalisierung (je mehr Zeit, desto größere/verallgemeinernde Gesellschaften). Wie passt das in ihre Geschichtsphilosophie und was halten Sie insgesamt von Harari’s Ideen?

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  8. Das ist ein typisches Mißverständnis dessen, was Zyklik im geschichtsphilosophischen Sinne bedeutet. Es ist natürlich eine Trivialität, daß die Menschheit seit ihrem Entstehen wächst und aufgrund des technischen Fortschritts immer größere Distanzen zu überbrücken weiß, wodurch sich eine „Globalisierung“, also Vereinheitlichung ergibt. Die unreflektierte Fokussierung auf solche Wachstumsprozesse diskutiere ich in KuI auf S. 410 [die fehlende logarithmische Skalierung z.B. des Bevölkerungswachstums]. Diese Art zahlenmäßigen Fortschritts bestreitet kein Zykliker. Aber es ist durchaus Zeichen der typischen Ignoranz und Inkompetenz der Fortschrittsapologeten (siehe die fehlende historische Beschäftigung von Harari), nur diejenigen Referenzpunkte in der Geschichte zu wählen, die eine solche Fortschrittsgeschichte nahelegen. Daß die ägyptischen Gaue sich geeint haben und wieder zerfielen – mehrfach –, daß Griechenland sich ausbreitete und abstarb, daß Rom wuchs und wieder zusammenbrach, daß es Renaissancen und Restaurationen in der Geschichte noch und nöcher gibt, ob im Politischen, der Kunst, Religion usw., all diese unzähligen historischen Fakta übersehen die Fortschrittstheoretiker. D.h. eigentlich übersehen sie nichts, sondern besitzen die notwendige historische Kenntnis einfach nicht, wie Harari mit seinem Buch eindrucksvoll zeigt.

    Ganz davon abgesehen ist es eine intellektuelle Zumutung, im Jahr 2000 als eine philosophische Erkenntnis zu verkaufen, was seit mindestens 100 Jahren in jedem Provinzblatt über die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung der Welt seit der Industrialisierung zu lesen steht und seit Jahrzehnten sogar von den einfältigsten Rednern politischer Provenienz tagein tagaus zum Allgemeinplatz nerviger Langeweile wurde: die Globalisierung. Aber hier reicht es eben weder bei den Autoren noch ihren Lesern und Zuhören dazu, wenigstens die Geschichte der letzten 100 Jahre so zu kennen, um sich mit einer solchen Banalität nicht lieber leise in eine Ecke zu verkriechen, statt sie als wundergott für eine Eingebung zum 1000sten Mal wiederzukäuen.

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  9. René Schneider

    Wenn ich ihn richtig verstehe, dann denkt Harari auf einer größeren Skala als Sie. Er gibt zu, dass in Gesellschaften wie Rom oder Ägypten Aufstieg und Zerfall passier(t)en, aber auf einer noch größeren Zoom-Skala sind das eben nur kleine Bumps einer letztlich monotonen Kurve in Richtung „Menschen aller Couleur vereinigt euch“ bzw. dem Zerfall aller lokalen Gemeinschaften, so ähnlich wie einige Galaxien sich einander annähern, während auf größeren Skalen doch alles expandiert. Und da ist was dran: erst lebten wir in Horden, dann in Sippen, dann in Stämmen, dann in Städten, dann in Reichen – in dieser Hinsicht ist da keine Zyklik, da scheint nur eine Richtung vorgegeben! Harari kann damit eine recht gute Voraussage machen – und ja, die passt natürlich dem Mainstream gut ins Konzept. Aber wo/wie wäre die Alternative? ME betreiben Sie beide Geschichtsphilosophie, aber mit verschiedenen „Ferngläsern“ – er schaut mit dem Teleskop, sie mit den Feldstecher. Beides hat seine Vor- und Nachteile (wie jeder weiß, der mal in einer Oper mit einem Teleskop hantieren wollte).

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  10. Beide Punkte, die Sie vorbringen, sind falsch:

    1. Ich habe ja gesagt, daß kein Zykliker diesen rein technisch bedingten Over-all-Fortschritt leugnet. Das sagt aber nur etwas über den kleinen Bereich der wirtschaftlich-technischen Entwicklung aus. Zudem ist es eben eine uralte Banalität, zu der man bereits auf den ersten Blick kommt und die auch keinerlei weitere Erkenntnis in sich birgt als eben diese Tatsache der Vereinheitlichung. Vorhersagen sind ebensowenig wie sonst in der Geschichtsphilosophie möglich, eben weil man keine der zyklischen Rückschläge vorhersagen kann. Und das sind ja wohl die Größenordnungen, die uns interessieren, nicht ob die Welt in 2000 Jahren vereinheitlichter ist oder nicht (und nicht einmal das kann er vorhersagen, siehe unten). Um diese Rückschläge auszumessen müßte er sich nämlich mit konkreter Geschichte befassen. Aber er will ja bloß ganz allgemein darüber lamentieren, was dem Geschmack der Massen und ihm persönlich offenbar sowieso gefällt. Und da stören die Fakten der Historie ja nur.

    2. Bei Hararis Anschauung handelt sich nicht um die größere Zoom-Stufe, d.h. Größenordnung. Da haben Sie sich wieder einlullen lassen und selbst nicht kritisch mitgedacht. Denn wo sich etwas vereinigen kann, dort muß erst einmal Differenzierung herrschen, das heißt zuvor herbeigeführt worden sein. Wenn sich also Menschen aller Art (und andere Dinge) vereinigen sollen, dann sind doch offenbar verschiedene Menschen vorhanden. Woher kommen diese bitteschön, wenn Vereinheitlichung der einzige Grundsatz aller Entwicklung ist? Die Menschen haben sich offensichtlich in der Geschichte nicht nur vereinigt (sonst wären ja bereits alle gleich), sondern zunächst einmal tüchtig differenziert – nämlich als sie sich von ihrem Ursprung aus getrennt und Jahrtausende voneinander entfernt einzeln entwickelt haben. Die größte „Zoom-Stufe“ ist also keineswegs eine lineare, wie Sie fälschlich und unüberlegt behaupten, sondern im Gegenteil eine zyklische, nämlich der Differenzierung der Menschheit in verschiedene Typen und sodann der umgekehrte Vorgang der Zusammenführung und Vereinheitlichung derselben. Dasselbe geschieht auch in der Geschichte der einzelnen Völker, eben fraktal-zyklisch auf allen Ebenen, genau wie ich es in KuI beschreibe. Denn in KuI wird ja gerade keine Größenordnung ausgewählt, aus der alles betrachtet wird, sondern alle fraktalen Stufen beschrieben. Daher gilt für diese gerade eben beschriebene oberste Größenordnung wieder „Kultur und Ingenium“ und nicht Hararis Allgemeinplätze einer Vereinheitlichungsentwicklung. Im Gegenteil ist es gerade Harari, der sich auf eine ganz gewisse Größenordnung festlegt und dann selbst dort nur einen ihm genehmen Ausschnitt wählt, um von Linearität sprechen zu können.

    Daß Harari hier einen Fortschritt im Gange sieht, ist also nur dadurch vorgegaukelt, daß in Wahrheit eine tatsächlich zyklische Bewegung vor sich geht, die weder er noch Sie erkannt, im Gegenteil: Sie beide übersehen haben. In Ausschnitten sieht Zyklik nämlich immer wie Fortschritt aus. Auch das Bespreche ich in der Einleitung von KuI. – Ihnen werfe ich es nicht vor, aber bei Harari muß man es sich einmal auf der Zunge zergehen lassen, daß solche simplen Überlegungen für diesen Mann offenbar zu hoch sind und sie ihm in jahrelanger Grüblerei nicht ein einziges Mal in den Sinn kamen. Als Zyniker könnte man sagen: Köstlich! Aber das ist eben das intellektuelle Niveau unserer Zeit.

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  11. Thomas Lange

    Nur zur Ergänzung: Entwicklung und Zyklizität/Periodizität lassen sich eigentlich nicht trennen, sondern gehören zusammen. Es sind zwei grundlegende Aspekte aller historischen Prozesse.

    Geschichte ist keine Linie, keine kontinuierliche Entwicklung und schon gar nicht eine vom Niederen zum Höheren, und sie ist auch nicht ein einfacher Kreislauf, der über Aufstieg, Höhepunkt und Niedergang zu Zerfall und Tod führt, sondern sie lässt sich nur als beides begreifen. Systemtheoretisch gesagt: Entsprechend dem Aufbau selbstorganisierender Systeme aus kleineren, untergeordneten Systemen und diese wieder aus noch weiter untergeordneten, besteht auch die zeitliche Entwicklung aus einer Abfolge von Zyklen in Zyklen in noch größeren und länger Zyklen. Die Entwicklung einer Galaxis setzt sich zusammen aus den Zyklen der Sternentwicklung und aus Generationen solcher Sterne, die biologische Evolution der komplexeren Lebewesen aus Aufstieg und Untergang von Ediacara-Tieren, Trilobiten, Gliederfüßern, Sauriern, Säugetieren usw., bis schließlich der ganze Zauber im Feuer der sich ausdehnenden Sonne verglüht. Auch die menschliche Geschichte ist einerseits bisher ein Aufstieg vom Niederem zum Höheren, vom Einfachen zum Komplexen, andererseits aber kein gradliniger und kontinuierlicher Prozess, sondern eine Abfolge von zwar miteinander verbundener, aber auch relativ eigenständiger Zivilisationen: Sumer, Ägypten, die griechisch-römische Welt, die Han-Dynastie, die Guptas und Mauryas in Indien, das arabische Kalifat, die kapitalistische Industriekultur …

    Systemtheorie, Theorie komplexer Systeme, Theorie selbstorganisierender Systeme bilden eigentlich die wissenschaftlichen Grundlagen zur Erforschung solcher Prozesse. Nur als Empfehlung, sich damit einmal näher zu befassen.

    Gruß Thomas Lange

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