Ich gebe zu, es ist zuletzt recht ruhig geworden. Ich streiche das Haus. Aber hier ist ja ohnehin alles derartig redundant, daß es keinen Verlust bedeutet, wenn der alte Hexenmeister sich doch einmal wegbegeben.
Dabei gäbe es viel zu erzählen. Also nichts was Sie interessiert, aber: Was kümmert’s mich? Zunächst habe ich etliche Tierbeobachtungen nachzutragen. Das geht bei recht unspektakulären Dingen los, wie dieser dennoch wunderschönen Gefiederfärbung einer am Straßenrand vermutlich durch die Kollision mit einem Auto verendeten Goldammer.
Weniger farbenfroh, dafür umso intelligenter, sind unsere sehr zutraulichen Amseln. Diese hier hat die Fensterscheibe unseres Gartenhauses zu unserem Bedauern nicht von der sehr real wirkenden Spiegelwelt unterscheiden können, welche dieselbe durch den üppigen Obstbaumbestand drumherum zuweilen recht eindrucksvoll reflektiert. Das war bisher nie geschehen, weshalb wir keine Vorsichtsmaßnahmen getroffen hatten.
Dann eines Tages, wie ich so vom Garten ins Dorf laufe und auf der Brücke meinen obligatorischen Blick in den Bach werfe, um zu sehen, ob die Forellen endlich wieder da sind, nachdem offenbar ein dämlicher Bauer letztes Jahr irgendwelchen Mist hineingekippt hat, da schießt ein knallblauer Pfeil unter der Brücke hindurch den Bachlauf entlang. Er war keine Sekunde zu sehen und verschwand unsichtbar in der Bachbiegung. Ich war ganz verdutzt. Dann erfuhr ich (nach zwanzig Jahren!), daß es bei uns tatsächlich Eisvögel gebe. Die säßen sogar an den Teichen. Ich sitze zu selten an Teichen.
Die Milane sind übrigens auch wieder da, nachdem ein paar Jahre nur Bussarde in den Höhen der Sommerhitze standen.
Von den Wühlmäusen und Fröschen, insbesondere den winzig kleinen (bloß eine halbe Fingerkuppe groß und kräftige Springer), die jedes Jahr vom Teich her kommen und mir bis vor zwei Wochen stundenlange Einschlafkonzerte hielten, rede ich gar nicht. Aber daß letzte Woche, als ich in den Garten meines Vaters komme, drei Schritt vor mir eine Ringelnatter durch die Apfelbäume stolzierte, das war nun wirklich alles andere als alltäglich. Ich hatte noch nie eine gesehen. Mindestens einen Meter lang, den Kopf stolz erhoben und mit der Zunge zischelnd, schlängelte sie sich recht flott durch den Garten, noch schneller, als ich ihr hinterherlief, und verschwand in der breiten Feldhecke hinter dem Gartenzaun. Die Kopfzeichnung war mindestens orange, eigentlich sogar rot.
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So viel zu den Tieren von Hain und Flur. Als ich zuletzt neue Farbe in Jena kaufte und mich mit reichlich Umweg auf einer Strecke verirrte, die ich vor vielen Jahren sehr regelmäßig fuhr, da war mir, als sollte ich auch davon etwas zeigen, obwohl es sich um keine ausgenommene Ausfahrt handelte. Aber wo der Weg das Ziel ist, ist das Ziel ja bedeutungslos.
Nach dieser Sackgasse ging es doch den normalen Weg über Graitschen und Löberschütz durch das schöne Gleistal. Tatsächlich wurden hier einmal Gleise verlegt. Die stillgelegte Bahnstrecke des Jahres 1905 ist heute ein herrlicher Radweg.
Die Straße schlängelt sich recht lieblich und höhen- wie tiefenreich durch das halbweite Tal mit den teils felsigen Hängen, die auf die Kalkberge Jenas vorbereiten, und mündet schließlich bei Golmsdorf ins Saaletal.
Von Golmsdorf fährt man am rechten Saaleufer nach Kunitz. Dort hat man die alte Hausbrücke wieder aufgebaut, die 1945 gesprengt wurde. Allerdings ist das heute leider nur die Radwegbrücke. Der Ort ist recht nett gelegen und macht einen fast erhabenen Eindruck, wenn man von Jena her wandert (hier besuchte ich oft einen alten Schulfreund).
Da ich auf dem Rückweg einkaufen war, trage ich einen Versuch nach, die Wellenlandschaft bei Seitenroda doch noch in ein Bild gefangen zu haben, von der ich sagte, sie sei nur zu erleben. Dieses Bild zeigt einen glücklichen Ausschnitt, in welchem es ohne Kopfwendung möglich ist, einen Eindruck von der sonderbaren Linienführung der Kerben und Hügel zu erlangen.
Auch kann ich Ihnen, verehrte Leser, jenen wöchentlichen Märchendeutschland-Anblick nicht verwehren, den ich habe, wenn ich nach Kahla einkaufen fahre. Dem Hausbesitzer links möge nach einiger Zeit im Höllenfeuer Gnade zuteil werden. Der HErr schenke ihm eine Brille.
Richters Reiseführer Thüringen (1917) schreibt:
Auf alten Mauer gebaut, bietet die alte Stadt ein eigenartig fesselndes Bild. In der Stadt mancherlei alte Giebel. […] An der Ecke vom Markt und der Magaretenestraße eine gotische Heiligenfigur. Hinter dem Curtschen Haus am Herzog-Ernst-Platz sehenswerte Stadtbefestigungsanlagen aus vier Jahrhunderten nebeneinander (Erlaubnisschein beim Stadtrat). An der Straße nach Rudolstadt r. am Hang der „Herzog-Ernst-Hain“ mit prachtvollen Blicken ins Saaletal und auf die Leuchtenburg.
Und weil meinem treuesten Leser die Rudolstädter Geschichte mit Goethe mindestens genauso gut gefiel, wie mir, darf ich es an zwei Aufschlüssen am Wegesrand nicht fehlen lassen, an denen für mich immerzu der Geheimrath aus der Kutsche steigt.
Und die Hohle, von der ursprünglich die Rede war, ich nenne sie in Ermangelung eines ehrwürdigeren Namens schlicht die Goethe-Hohle, gibt es nun auch noch, allerdings in einem etwas zu schnellen, nichtsdestoweniger schönen Schnappschuß. Dort im Schatten also saß der Kutscher. Aber das ist so lang her, vielleicht trügt mich meine Erinnerung.
Und weil mir gerade so ist, mache ich diesen Beitrag überhaupt zur Dokumentation des Rückweges, nachdem wir auf dem Weg nach Rudolstadt ja die Fahrt nach Kahla zu einem eigenen Abschnitt machten.
Aus der Hohle hinaus, schwingt sich die Straße in weitem Bogen durch ein Feld, an dessen Rande zum Wald häufig Damwild zu sehen ist und führt in langen Geraden durch den Wald. Das ist rückwärts besonders schön, da die Straße ganz leicht abfällt und der Wagen von anfangs 60 Stundenkilometern auf etwa 40 hinabrollt, als sich der Wald öffnet und man am Sporn eines Bergrückens ins Tal hinab schon bremsen muß.
Nun fällt die Straße stärker und windet sich am Grat herab nach Geisenhain. Und tippelditappel das letzte Landschaftsbild bevor ich heimkomme in unser eigenes Tal.
Nun wissen Sie endgültig, warum ich mich jede Woche auf den Einkauf freue, obwohl es sich bloß um drei Flaschen Milch, fünf Gläser Joghurt, ein paar Früchte, Mehl, Salami und Käse handelt. Und auch wenn ich Ihnen hier die Fahrt bei schönstem Wetter gezeigt habe, heute war es gewittrig und dennoch, oder gerade deswegen wieder einmal wunderschön.
Meanwhile in Hamburg … Wenigstens bleibt hier alles beim Alten. Ein echter Wangenheim eben – d.h. gerade darüber nicht schreiben wollen.
Jemand sagte mal, die Philosophiegeschichte ließe sich aufteilen in Philosophie, die im Sitzen und die im Gehen entstanden sei. Haben Sie Ihre vielleicht beim Fahren entwickelt?
Es grüßt
Ihr treuer Leser!
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Ich verweigere mich des Häßlichen. Man hat genug zu tun, sich sein eigenes ästhetisches Empfinden nicht davon kompromittieren zu lassen, was ohnehin wahrzunehmen kaum vermeidbar ist.
Da muß ich wohl gestehen, Geher zu sein. Beim Laufen kommen einem die besten Gedanken. Das ist seit 500 v. Chr. so. Aber gewisse Fragen, z.B. das der zyklischen Spiegelsymmetrie ergaben sich tatsächlich zunächst aus dem Erlebnis des Fahrens. Nehmen Sie das Durchlaufen eines Dorfes. Das ist der Mittelweg zwischen dem Wurzelnschlagen und Ansässig-Werden und dem Durchrasen mit dem Auto. Beide Extreme sind in gewisser Weise ignorant: Eines kann den Ort nicht mehr Wert schätzen, weil es keine anderen mehr kennt, das andere kann den Ort nicht wertschätzen, weil es in der Eile von keinem der vielen Ort noch etwas wahrhaft mitbekommt.
Eines jedenfalls ist sicher: Es ist eine Bewegungsphilosophie. Diesmal sogar insofern, als die Bewegung auch zwischen der Bewegung und dem Stillstand stattgefunden hat, also auch hierin selbstreferentieller Natur ist, sodaß beides Teil der Theorie werden konnte.
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Na immerhin beten Sie für den armen Kerl Ihrer Einkaufsstadt,daß seiner Seele wenigstens nach einer halben Ewigkeit endlich Friede zuteil werde, Sie Teufelsanbeter!
Da haben Sie wohl recht. Der Stubenhocker bleibt auf seinen Einfällen sitzen, während der andere sie zu Ende geht. Mir gefällt der Vergleich mit dem Dorf sehr gut. „Was soll ich denn wo hin? Ich habe doch meine Bücher, meine Papiere, Tinte und Feder hier!“, murmelte es leis aus der Kammer des Hausherren. „Gebt dem Briefträger Bescheid: mein Manuskript ist fertig. Nun stehen Sie nicht herum, es muß schleunigst raus!“
Diese kleine Szene verhält zu Ihrer Erfahrung spiegelsymmetrisch, insofern sie Stillstand zwischen Stillstand und Bewegung ist!
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Nur, weil er immerhin die Substanz belassen hat. In ästhetischeren Zeiten kann man es umstreichen. Ansonsten müßte man Recht vor Gnade ergehen lassen.
Da denkt man unweigerlich an den alten Kant. Philosophie kann man so machen. Aber es kommt eben auch oft Unsinn dabei heraus. Auch dafür ist unser guter Immanuel kein schlechtes Beispiel.
Ah, jetzt verstehe ich auch… der Stillstand zwischen Stillstand und Bewegung, also der Versuch aus dem Stillstand heraus Bewegung zu erzeugen, ausgelagert. Richtig, auch die Bücher sind ein Phänomen dieses Vorgehens. Man sollte sie auf das beschränken, was man tatsächlich unmöglich erleben kann (etwa Geschichte).
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An die Leuchtenburg habe ich schöne Erinnerungen, weil ich dort mehrmals Volkstanz-Wochenenden verleben durfte. Ekstase-Reigen bis zur Vergasung um 7 Uhr morgens…
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Pingback: Tiere, Himmel, Abendrot . 12 Sep 2017 – Die Reisen des wunderlichen Herrn Wangenheim