Zur Winckelmann-Ausstellung im Neuen Museum zu Weimar . 13 Mai 2017

In herrlichem Sonnenschein, aber dunklem Anzug und Schirm im Kofferraum – das Wetter sollte am Nachmittag umschlagen – ging es gestern außerplanmäßig nach Weimar. Denn als Historiker, selbst als schlechtester Historiker aller Zeiten, ist das eine zweifelsohne obligatorische Veranstaltung.

Freilich, was hätte man selbst als gutmütiger Fechter für das historische Verständnis von einer solchen offiziellen Huldigung einer Geistesgröße des bösen Zeitalters zu erwarten? Lächerliche Modernisierung und natürlich viel politische Korrektheit. Aber es kam doch gar nicht ganz so schlimm, wie gedacht.

Ich spazierte am Theater vorbei, bemerkte kein Aspirin dabei zu haben und bog noch einmal kurz in die Löwenapotheke. Als ich heraustrat, sah ich auf der anderen Straßenseite bereits unseren Musicus in Richtung Museum laufen und schloß mich an. Das Gauforum und das Neue Museum erstrahlten in ihrem rot-gelben Sandstein (im ersten Falle natürlich nur Putz), die Rolleaus der großen Museumsfenster waren tief herabgezogen, da begrüßten wir Johannes, der vorm Eingang bereits wartete und stiegen die Treppen hinauf.

Die Ausstellung beginnt im Obergeschoß mit einer typisch plakativen Gegenüberstellung einer ernsthaften antiken Statue, dem Apoll des Belvedere, und einem modernen Kopf Francesco Vezzolis, der sich 2011 als Liebhaber des Apoll küssend selbst portraitiert hat. Gähhhn. Gleich zu anfangs einmal alle Clichés bedient.

Und dann, was man doch in der Pädagogik seit Jahrzehnten als Ausgeburt der langweiligen Methoden des 19. Jahrhunderts gescholten hat, einmal die komplette Biographie Winckelmanns vorgelesen und auf Tafeln geschrieben. Ja, das ist gut. Aber habt ihr das nicht längst überwunden, ihr Modernen?

Dann nehmen wir Einblick in einige Exzerptbücher Winckelmanns, die neben den originalen ausgestellt sind und den Gelehrsamkeitsdrang des Schustersohnes dokumentieren sollen. Sehr feine und gekonnte Tuschzeichnungen – sowohl technischer als auch künstlerischer Sujets – sind dabei.

Außerdem gibt es zu zahlreichen Kunstwerken, für deren Beschreibungen Winckelmann ja so außerordentlich berühmt ist, dieselben per Audio-Führer zu hören. Und der Eindruck ist nochmals schlechter, als beim Lesen. Hat man die Werke tatsächlich vor sich, eröffnet sich jedem Hörer, daß auch Winckelmann – ganz Klassizist – wohl den Körperbau recht poetisch zu beschreiben weiß, daß aber etwa der Kopf des Apoll zu Belvedere entschlossen dreinblicke, ist eine unter vielen Fantastereien.

Auch zur Laokoon-Gruppe gibt es nicht mehr zu sagen, als daß Laokoon noch kämpft und daher nie schreien müßte (wie gefordert), daß aber die Antike ohnehin nie irgendwelche Gesichtsausdrücke zu formen verstand, was tief im antiken Wesen der Körperfokussierung verankert ist und ihn also fast so gleichgültig schauspielern läßt, wie all die Sebastians der Renaissance-Malerei, die nicht weniger unfähig war, glaubwürdig Gefühle darzustellen. KuI S. 293 ff.

Dann folgt die Preller-Galerie, die ich heute zum ersten Male sah und von dem wunderbaren Saal nicht wenig beeindruckt war. Preller hat hier herrliche Wandgemälde zur Illustration der Odyssee gemalt. Großartig, wie in den Buchten die mächtigen Schiffe liegen, die feine Beobachtung der südlichen Pflanzenwelt, die Felsen- und Palastarchitektur und freilich auch die gekonnt in Szene gesetzten Figuren in einzigartiger Farbigkeit machen zusammen mit der sonstigen Ausmalung des Saales im griechischen und spätrömischen Stil einen kolossalen Eindruck.

Im übrigen stehen hier in Flucht vier Statuen. Sie zeigen die von Winckelmann postulierten Stile der antiken Plastik. Dieses Epochedenken sei von Winckelmann begründet worden, lernt man. Das ist natürlich Unsinn. Es ist die erste Einteilung der antiken Kunst in Epochen. Daß man zuvor die Kunstgeschichte nur in Stile der Künstler eingeteilt habe, ist schlichtweg eine Lüge, die in der Ausstellung verbreitet wird.

Bereits der Stilbegriff der Renaissance, der schon 1550 von Vasari geprägt wurde, teilt die Kunstgeschichte in eine alte, mittlere und neue Epoche, nämlich die Antike, das Mittelalter und die Renaissance ab dem 13. Jahrhundert in Italien. Winckelmann hat diese Methode lediglich neu angewandt. Auch geht die Bezeichnung Barock seit 1750 um und ist damit eine Stilbezeichnung, die vor der Veröffentlichung seines Hauptwerkes Platz griff. Es ist sogar anzunehmen, daß dieses Barockdenken ihn nicht wenig beeinflußte. Denn das ist sein großer Antipode. Die Sachlichkeit, eben die edle Einfalt und stille Größe der antiken Plastik ist für ihn keine aus der Luft gegriffene Idee eines Buchgelehrten, sondern der entschiedene Gegensatz zur überladenen, verspielten, unernsten Barockkunst seiner Zeit, die er mit markigen Worten verabscheut.

Sagen wir also: Die Sache lag in der Luft. Aber Winckelmann ist bestimmt nicht der Erfinder der Stilkunde. Daß dann manche großen Geister – so Lessing – diese Methode noch weiter, etwa auf die Literatur der Alten, übertragen wollten, ist allzu verständlich.

Der Schustersohn aus Stendal bringt es schließlich zum Oberaufseher sämtlicher Altertümer im Kirchenstaat und wird, als er eine Reise nach Deutschland abbricht und rückkehrend in Triest Quartier nimmt, mit acht Messerstichen von einem Dieb ermordet. Allerdings hatte er diesen in seine Habseligkeiten eingeweiht, worunter sich zwei wertvolle Münzen fanden, die der später Hingerichtete offenbar lieber selbst besitzen als nur aus der Hand Winckelmanns betrachten mochte.

Als ich wieder in das Treppenhaus trat und die Aufseherin traf, die eingangs die Karten abgerissen hatte, begrüßte diese mich mit „Guten Tag!“, worauf hin ich erklärte, ich sei im Begriff zu gehen. Sie lachte und antwortete, das wisse Sie, schließlich stäche ich doch so heraus, daß sie sich genau an mein Eintreten erinnere. Ich lache. Aber eigentlich ist es traurig, daß man mit einem dunklen Dreiteiler und zurückhaltender Krawatte, sowie schwarzen Schuhen heute wie ein bunter Hund – in einem Museum! – heraussticht. Die bunten Hunde mit den farbigen Jacken und grellen Schuhen fallen dagegen nicht auf. Wieder alle Clichés bedient.

Wir wollen bereits im Erdgeschoß die Audio-Geräte wieder abgeben, da erklärt uns der mir aus früheren Besuchen anderer Museen längst bekannte, ausgenommen freundliche Wärter, er habe uns die traurige Mitteilung zu machen, daß wir noch nicht fertig seien, sondern daß die Ausstellung im Erdgeschoß weitergehe. Wunderbar! Auf, Herr Hauptmann, auf! Es ist nicht Säumens Zeit!

Hier ging es nun um die Rezeptionsgeschichte, die Wirkung Winkelmanns. Zum einen um den Farbenstreit: Ist die antike Baukunst und Plastik weiß oder bunt zu denken? und inwiefern wurde das Schönheitsideal der Antike adaptiert oder umgekehrt? Tatsächlich hängen einige Zeichnungen Füsslis an den Wänden – den ich schon immer für eine Mischung aus Superman und Hodler hielt. Ungewöhnlich.

Schließlich kommen wir zur eigentlichen Kernfrage der gesamten Klassik: zur Schönheit. Und da müssen sich nun die Damen und Herren Ausstellungsmacher reichlich biegen. Denn es geht um die Schönheit von Menschen. Und für Winckelmann gab es nur eine Schönheit, und das war anatomisch die antike Statue sowie physiognomisch das griechische Idealgesicht. Das Problem daran? Das ist ja vollkommen rassistisch.

Insbesondere, daß er sich explizit abgestoßen von den wulstigen Lippen der Neger zeigt, ganz ebenso wie von den platten Nasen derselben und denjenigen der Ostasiaten, paßt nicht recht in unsere herrschende Ideologie. Aber immerhin, man druckt es auf die Tafeln. Und geifernden Widerspruch sucht man interessanterweise vergebens. Selbst zur politischen Vereinnahmung Winckelmanns, die mit Napoleon beginnt, liest man bezüglich der Nationalsozialisten: Wohin der Schönheitswahn geführt habe, sei bekannt. Verstehen Sie? Sei bekannt. Man ist offenbar der eigenen Erzählung überdrüssig geworden.

Und so kann man einen ganzen Ausstellungsraum zur Rassenlehre besehen. Darunter eine Morphologie vom Frosch zum Apoll von Belvedere in 24 Schritten von Lavater, dem großen Interpreten des Schattenrisses. Die 19, sage ich, sei Schiller. Wir lachen nicht schlecht. Weiter hinten liegt unter den üblichen rassekundlichen Büchern des frühen 20. Jahrhunderts ein Buch aufgeschlagen, daß Gesichtsprofile nach der Schräge der Stirn, der Nasen- und der Mundpartie in je drei Stufen teilt und sie durchnumeriert. Die Nummer 2-1-2 mit der schrägen Stirn und der schräg nach vorn stehenden Kinnlade, sind wir uns einig, sei Wagner.

Freilich gibt’s dann noch ein Triptychon mit drei Gesichtern, einem Weißen, einem Halbschwarzen und einem ganz leicht nach Mexikaner aussehenden Mann (die Extremformen des Sub-Sahara-Afrikaners und südamerikanischen Eingeborenen hätten den Versuch vollends ad absurdum geführt), die alle in der Kopfhaltung des Apoll von Belvedere fotografiert sind. Die Botschaft soll wohl sein, alle Rassen könnten so schön wie der Apoll sein.

Wie sagt man gern: Schönheit liegt im Auge des Betrachters (was natürlich falsch ist). Aber der Gag wirkt just genausowenig, wie ein Schwarzer in einem Barockkostüm, der ebenso absurd aussieht, wie ein Weißer, der sich schwarz bepinselt. Das passende Lied dazu darf man übrigens einmal genau belauschen. Aus welchen Gründen Monsieur Durand (der Gentleman-Einbrecher, der hier dem Polizeikommissar den Baron Rochasse vorspielt) sich schwarz bepinseln will…. da kann man viel über den Geisteszustand unserer Gesellschaft lernen, die das nicht mehr als Komödie singt, sondern mit allen Mitteln in die Praxis umsetzt.

Schließlich will man uns noch verkaufen, daß ein dicker, verkrüppelter Paralympics-Gewinner in Marmor genau so schön sei, wie der Fragmenttorso von Belvedere.

Nun, ich glaube nicht, Tim. Aber vielleicht findet sich irgend ein moderner Winckeladvokat (sic!), der eine Hymne auf diesen Anblick schreibt.

Da ich neben dem Hören des Audio-Führers die Tafeln parallel las, ist mein Vorsprung mittlerweile deutlich angewachsen und ich sehe mich, derweil die beiden noch im Museum sind, draußen auf der Freitreppe um. Mächtige Wolken sind von Westen aufgezogen, knallweiß und tiefschwarz wechselnd, während die Stadt noch im Sonnenschein liegt.

Ich sehe mir die außergewöhnlich muskulösen Putten über den Fensterbögen des Museums an, die alle möglichen Künste, auch die der Historia ausüben, vergleiche die Architrave des Neuen Museum und des Gauforums in ihrem geglätteten Klassizismus, der zunächst sehr flach am Putz anliegend in gemessenen Proportionen bis zum quadratischen Wulst herauswächst, um in einem weiten Überhang zu enden, und den ich schon immer ausgesprochen anziehend fand. Und ich wundere mich über jenen Neubau eines Stadthauses neben dem Museum, der mittlerweile unter schweren Wolken liegt.

Es handelt sich zwar – wen wundert es – um einen ziemlich gesichtslosen Betonbau, aber immerhin verfügt er über ein paar Einteilungen der Fassade durch einfache, umlaufende Gesimse. Daß die Fenster, obwohl sie doch schon nicht mehr bis auf den Geschoßboden heruntergezogen sind (auch so eine zeitweilige Modernität ohne Zukunft), jetzt keine Außengeländer mehr brauchen, wird sich den Herren Architekten demnächst auch noch erschließen. Man darf nicht zuviel ästhetisches Gefühl in einem einzigen Arbeitsschritt erwarten. So weit sind sie noch nicht. Aber vielleicht ja auf dem richtigen Weg. Weckt mich, wenn wir wieder bei der edlen Einfalt und stillen Größe angelanget sind.

11 Gedanken zu “Zur Winckelmann-Ausstellung im Neuen Museum zu Weimar . 13 Mai 2017

  1. Musicus

    Ein paar Gedanken zu den beiden modernen Bildplastiken:

    Die Büste des zeitgenössischen Künstlers am Eingang zur Ausstellung ist ein völlig traditionelles, gegenständliches Werk, zudem mit idealisierender Tendenz. Sie will gar nicht das sein, was man heutzutage meist unter „modern“ versteht. Man wollte das beliebte Spiel des Dialogs der Vergangenheit mit der Gegenwart spielen, traute sich aber offenbar nicht, dem Apoll eines der üblichen Gegenwartskuddelmuddel gegenüber zu stellen. Hier kann man wohl auch vermuten, daß die Gegenwart der eigenen Ideologie müde wird (wie bei „die Folgen sind bekannt“).

    Das Problem der Paralympiker-Figur besteht darin, daß man überdeutlich sehen kann, daß dem Dargestellten Beine und Hände fehlen. Der Betrachter wird somit gezielt daran gehindert, sich die fehlenden Gliedmaßen hinzuzudenken, was beim Torso vom Belvedere problemlos möglich ist. Hätte der Bildhauer nur Kopf und Oberkörper des Mannes modelliert, also eine konventionelle Büste geschaffen, bestünde das Problem nicht. Es ist eben kein Vergleich des Paralympikers mit der fragmentierten Antikenfigur möglich.

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  2. Da muß ich zwei Mal widersprechen:

    1. Diese moderne Figur ist natürlich gegenständlich, sonst könnten wir ja überhaupt nichts zum Verhältnis der beiden sagen, da es sich natürlich bei dem Apoll ebenfalls um etwas Gegenständliches handelt. Ein gesprengter Kubus etwa hätte ja keine Verbindung hergestellt. Und doch hat es überhaupt nichts Klassisches an sich, eine hehre Statue auf eine derart profane Nichtigkeit herabzuziehen. Modern heißt nicht, allein die Formen, die man anfassen kann, zu sprengen, sondern den Kontext, das Angemessene zu ignorieren. Als Witz, meinetwegen. Kunst bestimmt nicht. Schon gar nicht „traditionelles Werk“.

    2. Die Austellungsmacher haben damit argumentiert, daß wir den antiken Torso gedanklich ergänzen würden. Das ist aber Unsinn. Ganz im Gegenteil, wenn, dann reizt er gerade durch das nicht-Vorhandene. So wie eine schöne Figur teils verhüllt erregender sein kann als eine nackte, so ist es hier: Wie der Blick durch ein Schlüsselloch. Das, was wir sehen, ist von äußerster Ästhetik: Haltung, Verteilung von Massen, Muskeln und die schiere Größe freilich. Wir müssen nichts ergänzen. Alles, was wir sehen ist schön. (Im übrigen ist der Torso sehr nah an dem des Laokoon.)
    Aber würden wir uns von einem häßlichen, aber teilverhüllten Menschen, angezogen fühlen? Natürlich nicht! Wir schauen ja auch nicht durch ein Schlüsselloch, um einen dicken Menschen zu sehen.
    Und so verhält es sich auch mit dem Paralympiker. Soll doch mal jemand dem Marmor-Krüppel auch noch die Arm- und Beinstümpfe abschlagen! Dann weiß niemand, ob er ein Krüppel sei. Wird es dann besser? Nein, natürlich nicht. Alles, was an dieser Plastik schön ist, das ist das Material, der Marmor. Aber daß etwas schön sei und das andere eben immerhin nicht so schön, vielleicht sogar häßlich, das wollen die Modernen nicht zugeben. Denn das ist Haßrede. Dabei ist es einfach wahr. Und Tatsachen ändern sich nicht, indem man sie leugnet. Aber genau das wird hier versucht.

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  3. Leser

    Die Verhüllung gewinnt aber ihre ganz besondere geheimnisvolle Kraft durch die intensive Idealisierung des Vorstelligen! Alle Erotik funktioniert so, dass die Enttäuschung ausgeschlossen ist und darin liegt die Kraft der Verhüllung. Ich stimme den Austellungsmachern daher völlig zu: wir können uns bei einer solch wohlproportionierten Gestalt (über den Muskelberg lässt dich schließlich noch immer streiten) einfach keinen verdrehten Fuß oder verstümmelten Arm hinzudenken. Besser noch: wir wollen es gar nicht! Dafür sind wir gar nicht angelegt, sobald noch wenigstens ein Fünkchen urtümliche Naturwüchsigkeit in uns steckt.

    Was den verhunzten Marmor anbelangt, so nützt hier allein die Aufsprengung des modernen PC-talk. Letztlich zweifle ich daran, dass jemand ernsthaft dort schöne Formen anbetet, weil er es so gesagt habe. Man feiert eher sich selbst in diesen Akten und zwar die Überwindungskraft und Selbstgeißelung der fortschrittlichen Zivilisation gegen das Natürliche. In dieser Lust ist tiefe Grausamkeit. Daher schreiben Sie ganz richtig, dass die Modernen das Hässliche nicht zugeben wollen. Andererseits klammern sie auch das Schöne aus. Der Blick muss gerade hier doch – wie für die rein dissonante Musik das Ohr – von Intellektualität überformt sein, um so etwas ernst und lange betrachten zu können. So verschieben sich auch die bedeuteten Sinnzusammenhänge der Worte Schön und Hässlich. Ganz so, wie Sie für die Musik in etlichen Beiträgen dargestellt haben.

    Ich möchte also sagen: es macht kaum Sinn sich auf dieser Ebene zu streiten, zumal man dieselben Begriffe paradoxerweise völlig verschieden belegt. Einmal unmittelbar natürlich und einmal kulturell totalisierend, spätzeitlich zivilisiert.

    Also soll der Marmorinvalid doch alles aber bloß nicht zum Hinzudenken fehlender Körperteile animieren! Das ist eben nicht die Aussage, sondern dass intellektuell-zivilisierte Schönheit im Akte der Schaffung dieses Gebildes selbst läge; dass der Stolz des modernen Geschmacks daraufhin geht Alles und Jedem einen würdigen Platz in der Gemeinschaft zu erteilen.

    „Doch, Doch! Der Paraolympiker ist schön… Denn er ist lebendig trotz seiner argen Einschränkungen. Er kann sogar gewinnen. Zugegeben, der Gewinn ist eng und klein und künstlich gestaltet – nun aber er misst sich mit seinesgleichen und damit machen wir ihn zum wohligen Bestandteil unserer Gemeinschaft. Ach es tut ja auch uns so wohl dabei! Ist er nicht schön?“

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  4. Offenbar verstehe ich unter Ergänzung etwas anderes. Insofern will ich meine Aussage relativieren: Im Zusammenhang mit antiken Plastiken heißt Ergänzung immer die Anheftung verlorener Teil in konkreter Form, d.h. in ganz bestimmter Weise werden die fehlenden Gliedmaßen und Gegenstände „ergänzt“. Eine solche konkrete Ergänzung, wollte ich sagen, findet nicht statt.

    Ich weiß nicht, wie die Figur, die heute ein Torso ist, im kompletten Zustand die Unterschenkel hielt, wohin die Arme gingen, wie der Kopf gehalten war. Eine Ergänzung in diesem Sinne nehme ich auch gedanklich nicht vor. Und zwar deshalb, weil es für die Schönheit des Bildes gar nicht nötig ist. Freilich, daß der Torso im höheren Sinne schön sei, was er also darstellen solle (d.i. die Aussage der ursprünglichen Plastik), das ist hier unmöglich zu erkennen. Und gerade daraus ergibt sich, daß wir die puren Formen einfach als schön empfinden.

    Und immerhin spricht für mich, daß auch Sie nur von der Unmöglichkeit einer ganz bestimmten Ergänzung an den antiken Torso sprechen, nämlich angehefteter krüppeliger Gliedmaßen. Es handelt sich also – wenn überhaupt – um die Art der Einschränkung jener Ergänzung. Wenn also Ergänzung nur heißen soll, daß man von dem Gesehenen extrapoliert und sich nicht ausdenkt, was alles an der ursprünglichen Figur häßlich hätte sein können, dann ja, ergänzen wir.

    Dennoch bleibt bestehen, daß selbst – die verkrüppelten Gliedmaßen abgeschlagen – die Ergänzung des Paralympikers (der dann als solcher gar nicht mehr zu erkennen ist), noch immer nicht schön wird, sondern lediglich einen ganz durchschnittlichen, beleibten Torso in dem schönen Material des Marmor zeigt.

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  5. Leser

    Dem kann ich nicht widersprechen. So war es gemeint. Winckelmann bringt den Vergleich vom breiten, sark wirkenden Baumstamm ohne Beästelung, der ja gleich dem Torso im Grunde Wohlgeratenheit verspräche.

    Allein dieses imaginierte Versprechen von Glück in der Schönheit ist dasjenige, was ich als relativ freie (nicht konkrete) Ergänzung begreifen wollte. Ich denke, jene freie Ergänzung ist diejenige, welche als prinzipielle Möglichkeit jener puren Form, von der Sie sprechen, zulassbar bleibt. Denn unmöglich können Sie mit der Schönheit der puren Form den bloßen konkreten Torso meinen? Da könnte ich Ihnen nämlich nicht zustimmen. Dafür ist Plastik zu real und solch ein zerstückelter Mensch hat wenig entzückendes. Man frage einmal die Gerichtsmediziner und Pathologen! Oder die Nutzer von Dating-Apps wie Tinder, die sich ggf. nur wenige Körperstellen präsentieren.

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  6. Leser

    Gehört zur Beschauung der sogenannten reinen Form nicht mehr intellektuelle Leistung, als zur Hinzudichtung ästhetisch passender Körperteile? Die Ergänzungen sind Schein und Oberfläche der sinnlichen Passion und schließlich urtümlich-primitiver als jegliche Ästhetik eines stark entstellten Fragments.

    Zugegeben, ich schaue nicht auf den Torso und projiziere sofort geeignete Ergänzungen in das Bild, doch wenn ich mich frage, wieso mir dieser Torso denn gefalle, so finde ich sehr wohl die Antwort in den Projektionen, die ich dann jedenfalls vornehme. Dieser Vorgang ist nicht zwingend bewusst. Aber jede Beschreibung, die ich an der Form des Fragments vornehme, nimmt gleichwohl eine geahnte Ergänzung vorweg, sodass am Ende keine reine Form des Fragments vor mir erscheint, sondern ein entzückendes Ganzes.

    Ich erzähle mir die Geschichte des Fragments und ob ich nun bewusst die Erzählung abbrechen mag, so dichtet sie sich selbst unbewusst in mir fort. Die Form der konkreten Gestalt wird unter der Kraft meiner Anschauung flüssig und verformt. Ganz der Erwartung gemäß, die ein schöner verhüllter Körper auslöst. Ganz im Geiste Stendhals: „La beauté est une promesse de bonheur“.

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  8. Ron

    Winckelmann, der „neue Kolumbus“

    „Aber Winckelmann hätte lange Zeit in den weiten Kreisen altertümlicher Überbleibsel nach den wertesten, seiner Betrachtung würdigsten Gegenständen umhergetastet, hätte das Glück ihn nicht sogleich mit Mengs zusammengebracht. Dieser, dessen eigenes großes Talent auf die alten und besonders die schönen Kunstwerke gerichtet war, machte seinen Freund sogleich mit dem Vorzüglichsten bekannt, was unserer Aufmerksamkeit wert ist. Hier lernte dieser die Schönheit der Formen und ihrer Behandlung kennen und sah sich sogleich aufgeregt, eine Schrift »Vom Geschmack der griechischen Künstler« zu unternehmen.

    Wie man aber nicht lange mit Kunstwerken aufmerksam umgehen kann, ohne zu finden, daß sie nicht allein von verschiedenen Künstlern, sondern auch aus verschiedenen Zeiten herrühren und daß sämtliche Betrachtungen des Ortes, des Zeitalters, des individuellen Verdienstes zugleich angestellt werden müssen, also fand auch Winckelmann mit seinem Geradsinne, daß hier die Achse der ganzen Kunstkenntnis befestigt sei. Er hielt sich zuerst an das Höchste, das er in einer Abhandlung »Von dem Stile der Bildhauerei in den Zeiten des Phidias« darzustellen gedachte. Doch bald erhob er sich über die Einzelheiten zu der Idee einer Geschichte der Kunst und entdeckte, als ein neuer Kolumbus, ein lange geahndetes, gedeutetes und besprochenes, ja man kann sagen, ein früher schon gekanntes und wieder verlornes Land…“ (Goethe)

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